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Landeszeitung Lüneburg: "Eine Vier vor dem Komma" - Interview mit dem DIW-Experten Karl Brenke über die Tarifverhandlungen

Geschrieben am 11-01-2018

Lüneburg (ots) - Die Tarifparteien entscheiden in diesem Jahr über
die Vergütungen von rund zehn Millionen Beschäftigten. Die Position
der Gewerkschaften ist angesichts der geringen Arbeitslosenzahlen und
des Fachkräftemangels in immer mehr Branchen ungewohnt stark. Kann
man schon von einem Ungleichgewicht sprechen?

Karl Brenke: Die gute Konjunktur verschafft den Gewerkschaften
Luft, um relativ hohe Lohnforderungen zu stellen. In der
Vergangenheit haben die Gewerkschaften den Verteilungsspielraum, der
sich aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung geboten hat, nicht
ausgeschöpft. Aktuell gibt es zum Beispiel im Bereich der
Metall-Industrie Lohnsteigerungen von rund zwei Prozent. Die
Inflationsrate liegt kaum darunter. Rechnet man die kalte Progression
bei der Steuer dazu, gibt es zwar keine Reallohnverluste, aber eben
auch keine Gewinne. Daher sind die Gewerkschaften aufgefordert,
höhere Lohnabschlüsse durchzusetzen - zumal die Unternehmen in der
Metall- und Elektroindustrie im Durchschnitt relativ gut verdienen.

Der IG Metall geht es neben Lohnerhöhungen dieses Mal vor allem um
die Zukunft der Arbeitsbedingungen. Mangelt es in Deutschland
generell an neuen Arbeitszeitmodellen?

Karl Brenke: Ich bin da sehr skeptisch. Die IG Metall beruft sich
bei ihrer Forderung, die individuelle Arbeitszeit auf bis zu 28
Stunden pro Woche verkürzen zu können, auf Umfragen unter ihren
Mitgliedern. Als Befragter gibt man bei solchen Umfragen zwar an,
dass man so eine Verkürzung gerne hätte. Ob man dann aber tatsächlich
auch eine Arbeitszeitverkürzung für sich in Anspruch nimmt, ist eine
ganz andere Sache. Die Psychologie hat immer wieder gezeigt: Ein
angekündigtes Handeln muss nicht mit dem späteren tatsächlichen
Handeln übereinstimmen. Falls es zu einer Arbeitszeitverkürzung
kommt, wird sie gewiss mit Lohneinbußen einhergehen. Wie groß sie
ausfallen, werden die Verhandlungen zeigen. Aber unterm Strich wird
es sicher Lohnverluste geben. Die Forderung der Metaller zielt
allerdings darauf, dass die Arbeitnehmer mehr Zeit etwa für die
Betreuung der Kinder haben sollten. Sie richtet sich gerade an
jüngere Mitglieder. Aber die Erfahrung zeigt, dass auch jüngere
Familien gerne das Geld und nicht das Plus an Freizeit wählen, denn
gerade junge Familien sind auf das Geld angewiesen.

Müssen Arbeitgeber auch von sich aus neue Angebote machen, weil
der Konkurrenzkampf um Fachkräfte künftig weiter zunimmt?

Karl Brenke: Zunächst müssen die Arbeitgeber bei der Bezahlung
zulegen. Lohnabschlüsse wie in den vergangenen Jahren werden wenig
attraktiv sein, um zusätzliche Arbeitskräfte anwerben zu können. Das
kann die IG Metall nutzen, die in den letzten Jahren eine eher
schlafmützige Lohnpolitik betrieben hat. So müsste bei den
Tarifabschlüssen eine Vier vor dem Komma stehen. Das gibt auch die
wirtschaftliche Entwicklung her. Alles andere wäre für die
Gewerkschaftsmitglieder enttäuschend. Seitens der Arbeitgeber kann
man mit vielfältigen betrieblichen Anreizen versuchen, Arbeitskräfte
an sich zu binden. Das muss keine Arbeitszeitverkürzung sein, sondern
können auch Angebote an betrieblicher Kinderbetreuung, Maßnahmen zur
Gesundheitserhaltung oder an Weiterbildung sein. Und angesichts der
Wohnungsknappheit in vielen Städten könnte auch die gute, alte
Tradition der Werkswohnungen wieder belebt werden.

Eine weitere Diversifizierung von Arbeit passt in die Zeit. So
gibt es den immer größeren Wunsch nach besserer Vereinbarkeit von Job
und Familie. Gibt es angesichts der im internationalen Vergleich
zuletzt wieder gestiegenen Arbeitskosten in Deutschland überhaupt
genügend Spielraum?

Karl Brenke: Deutschland ist eine große Exportnation und steht
natürlich im internationalen Wettbewerb. Mit Blick auf die
Entwicklung in den vergangenen Jahren haben die deutschen Unternehmen
enorm von einer Lohnzurückhaltung profitiert. Das hat zu starken
Spannungen im Euro-Raum geführt. Nicht zu Unrecht kritisieren einige
andere Länder, dass Deutschland nicht permanent seine
Wettbewerbsfähigkeit verbessern könne durch ein Zurückbleiben bei den
Löhnen. Selbst die Deutsche Bundesbank, die in der Vergangenheit oft
vor Lohnanhebungen gewarnt hat, fordert inzwischen höhere Löhne. Von
daher glaube ich, dass die Unternehmen bei den anstehenden
Tarifrunden deutlich mehr bieten müssen. Man kann schließlich nicht
die Vorteile einer Währungsunion ausnutzen, und sie dabei aber
untergraben, indem man der Konkurrenz in anderen Teilen der Euro-Zone
durch unangemessen niedrige Lohnsteigerungen schadet. Die deutschen
Unternehmen und Gewerkschaften sollten sich endlich
stabilitätsgerecht verhalten.

Besteht die Gefahr, dass sich Gewerkschaften bei immer mehr
Arbeitszeit- und Entgelt-Modellen am Ende selbst schwächen, weil sich
Forderungen in Tarifrunden nicht immer weiter spezifizieren lassen?

Karl Brenke: Das ist in der Tat ein Problem. Wenn ich schon sehe,
dass versucht wird, immer mehr Elemente in den Tarifverhandlungen
unterzubringen. Das lenkt von der hauptsächlichen Aufgabe der
Gewerkschaften, also der Lohnpolitik, ab. Ein Beispiel: Eine
Gewerkschaft fordert die Übernahme von Auszubildenden. Das mag gut
und schön sein. Aber warum sollte das eine Forderung der
Arbeitnehmervertreter sein, wenn die Unternehmen behaupten, dass es
einen Fachkräftemangel gibt? Industriegewerkschaften sind auch
bekannt dafür, dass sie gerne auf eine Ausweitung der Altersteilzeit
setzen. Das kommt aber nur älteren Arbeitnehmern zugute. Insofern ist
die neue Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, die sich vor allem an
jüngere Arbeitnehmer richtet, vielleicht ein Versuch, hier einen
Ausgleich zu schaffen und mehr Mitglieder zu mobilisieren
beziehungsweise neue Mitglieder unter den Jüngeren zu gewinnen. Die
Liste von Beispielen ist auf jeden Fall ziemlich lang - und führt
dazu, dass die Tarifverhandlungen immer mehr zerfleddern und das
Wesentliche vernachlässigt wird.

Sehen Sie rechtliche Probleme, wenn es für jüngere Familien einen
Teillohnausgleich gäbe? Immerhin sprechen die Arbeitgeber von einer
Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, die schon in Teilzeit sind
und keinen Teillohnausgleich bekommen würden.

Karl Brenke: Grundsätzlich kann man alles in Tarifverträgen
regeln. Aber es gäbe eine großes Wirrwarr. Und ich könnte mir
vorstellen, dass es in der Belegschaft Murren und Klagen gibt, wenn
ein Arbeitnehmer bereits eine reguläre Teilzeitbeschäftigung hat und
keinen Ausgleich bekommt, der andere aber die tarifvertraglich
vereinbarte Arbeitszeitverkürzung wählt und einen Ausgleich bekommt.
Eine solche Arbeitszeitverkürzung würde eindeutig die
Teilzeitbeschäftigten diskriminieren. Das könnte für die
Gewerkschaften ein Problem werden - auch rechtlich.

Abseits von Tarifverhandlungen und Tarifpartnern: Was könnte denn
die Politik beitragen, was sollte oder könnte eine mögliche neue
große Koalition beitragen?

Karl Brenke: Auch eine große Koalition kann nichts beisteuern,
weil die Lohnfindung Sache der Tarifpartner ist, die Tarifautonomie
grundgesetzlich geschützt ist. Was die Politik aber angesichts des
künftig knapper werden Angebots an Arbeitskräften beisteuern könnte ,
wäre der Wegfall der steuerlichen Begünstigung bei der
Altersteilzeit. Denn dafür gibt es meiner Meinung nach keine Gründe
mehr. Aber rationales Handeln ist von der Politik in dieser Hinsicht
wohl nicht zu erwarten - siehe die Rente mit 63.

Was wäre dringender: Eine Senkung der Steuer- oder der
Beitragslast? Karl Brenke: Das ist eine schwierige Frage. Aber wenn
ich auf die Einkommensverteilung in Deutschland blicke, würde ich an
der Stelle der Gewerkschaften erst einmal Lohnabschlüsse erzielen,
die den Verteilungsspielraum auch ausschöpfen. Damit wäre schon viel
gewonnen.

Zur Person

Karl Brenke studierte Soziologie, Volkswirtschaftslehre und
Statistik an der Freien Universität Berlin. Von 1983 bis 1985 war er
wisssenschaftlicher Assistent an der FU Berlin ( Forschungsstelle
Sozialökonomik der Arbeit). Seit 1985 ist er wissenschaftlicher
Referent im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und
Autor zahlreicher Publikationen.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


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