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Landeszeitung Lüneburg: Wir fremdeln gar nicht - sagt Ska Keller, Grünen-Fraktionschefin im Europaparlament, und fordert mehr Polizei statt mehr Videoüberwachung

Geschrieben am 25-05-2017

Lüneburg (ots) - Wieder ist Großbritannien Schauplatz eines
islamistischen Anschlags. Ist Europa stark genug, um im Wechselspiel
zwischen Dschihadismus und Rechtspopulismus seine Werte zu bewahren?

Ska Keller: Stark genug ist es auf jeden Fall. Die Frage ist, ob
wir unsere Stärken nutzen. Zunächst mal gilt es, ganz konkrete
Schwachpunkte zu beheben. So waren islamistische Gefährder in der
Vergangenheit zwar oft im Nachbarland bekannt, doch das gab die
Informationen nicht weiter. Da müssen die europäischen Staaten bereit
sein, die Stärke des Austauschs von Erkenntnissen zu nutzen. Um dem
Aufstieg der Rechtsnationalisten zu begegnen, die derartige Anschläge
nutzen, um Wasser auf ihre Mühlen zu leiten, müssen wir anfangen, für
Europa zu streiten. Lange Zeit herrschte eine Haltung vor, nach der
Europa ein Selbstgänger sei. Mittlerweile haben wir gelernt, dass
Europa mitnichten selbstverständlich und unzerstörbar ist. Ermutigend
ist, dass immer mehr Menschen in den "Pulse of Europe"-Demos ihre
Zustimmung zum Projekt der europäischen Einigung bekunden. Angesichts
so vieler Herausforderungen, die man nur gemeinsam angehen kann -
Migration, Klimawandel, Terrorismus, Globalisierung - erkennen immer
mehr Menschen, dass es die EU mehr als jemals zuvor braucht.

Welche Rolle können die Grünen dabei spielen? In Umfragen billigen
die Bürger ihnen zwar die richtigen Antworten auf den Klimawandel zu,
nicht aber auf die Angst vor Terror oder Globalisierung.

Keller: Weil der Klimawandel eine derart existenzielle Frage ist,
freue ich mich, dass Bürger uns in diesem Punkt etwas zutrauen. Aber
bei dem Rest müssen wir aufholen. Da arbeiten wir auch stark dran. So
haben wir in Sachen Globalisierung viele einzelne Antworten,
positionierten uns etwa früh gegen TTIP und CETA als unfaire Modelle
und stehen ein für soziale Gerechtigkeit. Aber wir müssen das stärker
als Gesamtkonzept darstellen. Soziales und Umwelt müssen zusammen
gesehen werden, denn: Wer muss an lärmigen und verdreckten Straßen
leben? Wer kann sich den Bio-Supermarkt leisten?

Kann sich eine Partei in Zeiten des Terrors den Luxus erlauben,
mit dem Thema innere Sicherheit zu fremdeln?

Keller: Wir fremdeln gar nicht, haben nur andere Antworten. So
lehnen wir den reflexartigen Ruf etwa aus der Union nach mehr
Videoüberwachung als sinnlos ab. Man sammelt Unmengen von Daten von
unbeteiligten Passanten oder auch Fluggästen, die kaum ausgewertet
werden können, und weder die Straftat noch der Terroranschlag werden
verhindert. Relevant sind die Daten über Personen, die bereits als
Straftäter oder als gefährlich bekannt sind. Da fehlt es aber an
Personal, diese Menschen zu überwachen. Hier wie auch bei einer
besseren Prävention liegen die Möglichkeiten, effizient gegen Terror
vorzugehen.

War es kein Fremdeln, dass Grünen-Parteichefin Peters nach der
Kölner Silvesternacht 16/17 zunächst Polizeischelte betrieb? Empathie
für die Verunsicherten nach der Schmach sieht doch anders aus....

Keller: Es ist wichtig, auf die Verunsicherung der Menschen
einzugehen, so wie wir Grünen das machen, indem wir eine Stärkung der
Polizei fordern. Hier muss der Abbau der vergangenen Jahre
zurückgedreht werden. Genauso wichtig ist aber auch, Defizite
polizeilicher Arbeit aufzuzeigen, wozu racial profiling gehört.
Diskriminierung von Minderheiten verstärkt nur die Unsicherheit.

Der Puls Europas schlägt in vielen Städten bei Demonstrationen
wieder, Macron hat den Marsch Le Pens in den Élysée vorerst
verhindert, Van der Bellen in Österreich den FPÖ-Aufstieg gebremst.
Beleben die rechtspopulistischen Schocks den Europa-Gedanken neu?

Keller: Ich denke, ja. So hat gerade der Brexit gezeigt, dass
Anhänger Europas sich selbst einbringen müssen. Auch die Wahl Trumps
hat vielen in Europa verdeutlicht, dass vermeintlich
Selbstverständliches - Frauen-, Minderheiten- und soziale Rechte -
schnell zu kippen ist. Nötig wäre nun auch ein europapolitischer
Schwenk der Bundesregierung. Weg von der rigiden Austeritätspolitik,
hin zu Investitionen und Reformen. In Ländern wie Griechenland oder
Spanien entstehen ganze Generationen ohne Perspektive. Wir müssen
aufpassen, dass das nicht verlorene Generationen werden.

Wo sie in Deutschland in Regierungsverantwortung sind, haben die
Grünen Abschiebungen in den afghanischen Krieg verhindert. Wie sieht
das grüne Konzept für eine europäisch-deutsche Einwanderungspolitik
aus?

Keller: Gerade der jüngste Mord an der deutschen
Entwicklungshelferin hat gezeigt, wie unglaublich wichtig es ist,
Abschiebungen nach Afghanistan zu verhindern. Unser Fokus liegt
zumeist auf europäischen Opfern, der alltägliche Terror gegen die
Afghanen selbst wird dabei oft übersehen. Flüchtlingspolitik lässt
sich nicht steuern. Wer flieht, muss Schutz finden. Dabei ist
zentral, die Fluchtursachen anzugehen - aber nicht einfach. Wie soll
etwa der Krieg in Syrien gestoppt werden? Es gilt, legale Zugangswege
zu schaffen, damit die Menschen nicht mehr in die Schlauchboote
steigen müssen. Außerdem muss eine faire Verteilung zwischen den
EU-Staaten geregelt und einheitliche Standards gesetzt werden.
Einwanderungspolitik dagegen kann man steuern. Hier brauchen wir
transparente und faire Einwanderungskriterien. Es kann nicht sein,
dass wir die besten Köpfe abziehen ohne Rücksicht auf die
Herkunftsländer.

Sie haben in der Türkei studiert. Muss Europa die Türkei in der
Ära Erdogan verloren geben?

Keller: Auf keinen Fall. Knapp 50 Prozent der Türken sind gegen
die Machterweiterung von Erdogan, gehen für ihre Rechte auf die
Straße oder hungerstreiken, um gegen die Säuberungen zu protestieren.
Diese Menschen dürfen wir nicht hängen lassen. Aber Europa - und
gerade die Bundesregierung - muss gegenüber Erdogan anders auftreten
als bisher. Beitrittsgespräche zu führen, ohne eine echte Perspektive
zu bieten, hat zu einer ungeheuren Enttäuschung geführt - die Erdogan
zu nutzen verstand. Fatal ist auch der sogenannte Flüchtlingsdeal,
der kein verbindliches Abkommen ist, sondern lediglich eine
Pressemitteilung. Mit diesem Deal hat sich die EU abhängig von
Erdogan gemacht. Zudem ist schon der Grundgedanke irrwitzig, dass
ein Europa, das mit seinen Flüchtlingen nicht klarkommt, der Türkei,
die schon mehr als zwei Millionen beherbergt, noch weitere aufbürdet.
Dabei hat Europa einen Hebel in der Hand, die Erweiterung der
Zollunion unter anderem auch auf Dienstleistungen. Daran hat Ankara
ein großes Interesse. Diese Erweiterung sollten wir nicht zulassen,
bevor sich die Lage der Menschenrechte nicht verbessert. Wann sollte
die EU die Beitrittsgespräche abbrechen?

Keller: Die Einführung der Todesstrafe ist die rote Linie. Da sind
wir uns auch im europäischen Parlament einig.

Die Wahlen in Schleswig-Holstein brachten für die Grünen einen
Erfolg, in NRW wurden sie hingegen halbiert. Welche Lehren müssen die
Grünen aus diesen Ergebnissen ziehen?

Keller: Die gegenläufigen Ergebnisse haben natürlich viel mit den
jeweiligen Landesthemen zu tun. Bei der Bundestagswahl ist es für uns
zentral, klarzumachen, wofür wir stehen und was keinesfalls mit uns
zu machen ist. Die grüne Idee ist aktueller denn je, wie Klimawandel
und Dieselskandal unterstreichen. Wir müssen unsere grüne Kernidee
mit dem Sozialen verknüpfen und verdeutlichen, dass wir für eine
offene Gesellschaft eintreten.

In Kiel hat die FDP eine mögliche Ampel ausgeknipst, in NRW ist
Rot-Grün abgewählt worden. Müssen Sie sich mit Jamaika anfreunden?
Eine Schnittmenge mit der FDP könnte eine liberale, weltoffene
Gesellschaft sein.

Keller: Prinzipiell gibt es in dem Punkt tatsächlich
Übereinstimmungen, allerdings muss ich mich angesichts der Töne von
Parteichef Christian Lindner, der gefordert hat, dass Mesut Özil die
Nationalhymne mitsingt, schon fragen, wo die alte Bügerrechtspartei
geblieben ist. Und mit der FDP wäre auch nur schwer eine sozialere
Politik zu machen, in der die Globalisierung die Menschen mitnimmt,
statt ganze Regionen ohne Jobs veröden zu lassen. Eine robuste
Sozial- und Arbeitsmarktpolitik kann ich mir bei der FDP nur schwer
vorstellen. Wenn die FDP offene Gesellschaft sagt, meint sie meist
offene Märkte.

Das Gespräch führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung L?neburg, übermittelt durch news aktuell


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