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Rheinische Post: Kommentar: Kanzler der Vernunft

Geschrieben am 10-11-2015

Düsseldorf (ots) - Er wollte Städtebauer werden, das friedliche
Miteinander der Menschen organisieren, planen, gestalten. Das war der
Kindheitstraum von Helmut Schmidt. In der Politik verwirklichte er
ihn. Im großen Maßstab. Helmut Schmidt kam dem Politiker, wie ihn
sich Max Weber gewünscht hatte, recht nahe. Leidenschaft, Augenmaß,
Verantwortungsbewusstsein. Zuschreibungen, die Weggefährten und
Beobachter in Dutzenden Porträts, Kommentaren und Briefen über Helmut
Schmidt immer wieder verwendeten. Politiker müssten für die Folgen
ihres Handelns aufkommen, auch für die ungewollten, so Helmut
Schmidts Credo. Der Politiker sei nur der Vernunft, seiner
Urteilskraft, seinem Gewissen verantwortlich. Und nicht
Mehrheitsmeinungen oder Parteiprogrammen. Welch' aktuelle Botschaft!
Je mehr sich Politiker von einer fixierten Ideologie leiten ließen,
vom Machtinteresse der eigenen Partei, umso größer sei die Gefahr von
Irrtümern, sagte Schmidt. Seine Erfahrung als junger
Wehrmachts-Offizier, der die Abgründe des Krieges erlebte, spiegelt
sich hier wider. Die Befreiung vom Nationalsozialismus verstand er
als Auftrag, die Demokratie zu stärken. Mit diesem Kompass arbeitete
sich der Lehrersohn aus Hamburg an die Spitze der Sozialdemokratie
und der Bundesregierung. Er wurde zu einem der beliebtesten und
angesehensten deutschen Politiker. Geradlinig, selbstbewusst,
unkonventionell. Als Hamburger Innensenator kämpfte Schmidt mit
preußischer Disziplin und bürokratischer Flexibilität gegen die
Sturmflut. Als Finanz- und Wirtschaftsminister brachte er die
weltwirtschaftliche Perspektive in die engstirnige deutsche Debatte.
Seine Gegner verspotteten ihn als "Weltökonom", doch sah er nur
früher klarer und weiter. Er warnte vor "Raubtierkapitalismus", Jahre
bevor Banken mit dubiosen Kreditpapieren Milliarden verzockten und
von Staaten gerettet werden mussten. Als Verteidigungsminister
verhalf er den "Staatsbürgern in Uniform" mit den
Bundeswehr-Universitäten zu akademischen Weihen. Der Große
Zapfenstreich heute vor dem Berliner Reichstag, er dürfte auch zu
seinen Ehren gegeben werden. Pflichtbewusstsein, Verfassungstreue
waren Helmut Schmidts Kategorien, auch wenn er die SPD irritierte.
Jahre später erklärte Schmidts Intimfeind Horst Ehmke, dass es nie
einen besseren Verteidigungsminister gegeben habe als Schmidt. Als
Bundeskanzler fehlte ihm das Historische, jener Moment der
Geschichte, wie ihn Helmut Kohl in der Wiedervereinigung und Willy
Brandt in der Ostpolitik erfuhr. Schmidt musste Krisen managen, wie
man heute sagen würde. Ölkrise, Rüstungswettlauf, Terror. Dafür war
Schmidt der Richtige. Ein Macher. Ein Begriff, den seine Frau Loki
nie mochte. Im Kampf gegen den Terror ging der Kanzler an die Grenzen
der Verantwortung, verweigerte die Staatserpressung und riskierte in
Mogadischu sein Amt. In seiner bittersten Stunde, der Ermordung von
Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch die RAF, sah sich
Schmidt bis zuletzt als Verantwortlicher. Seine Geste bei der
Trauerfeier, als er sich vor der Witwe Schleyers verbeugte, werteten
viele als Entschuldigung. 25 Jahre später erhielt Helmut Schmidt den
Preis der Schleyer-Stiftung. Er war ein Staatsmann mit Weit- und
Weltblick. Mit seinem Freund Valéry Giscard d'Estaing legte er den
Grundstein für den Euro. Die aufstrebende Macht Chinas erkannte er
früh. Schmidt war der erste global denkende deutsche Regierungschef.
Doch erst seine letzte Rolle brachte ihm den größten Erfolg. Als
Publizist und ketterauchender Welterklärer gab Schmidt aus der
"Zeit"-Zentrale heraus politische Orientierung, seine intellektuellen
Wortbeiträge ließen ihn zur moralischen Instanz aufsteigen. Dem
Musikliebhaber und Bach-Fan, der zuletzt nicht mehr hören konnte,
hörten die Deutschen zu wie kaum einem anderen. Kultstatus erlangte
er auch in der jungen Generation. Wie sagte Schmidt: "Sympathie
bleibt ein Geheimnis." Am Dienstag ist der große alte Mann der
deutschen Politik 96-jährig gestorben. Deutschland verliert sein
politisches Gewissen.



Pressekontakt:
Rheinische Post
Redaktion

Telefon: (0211) 505-2621


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