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Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Flüchtlingspolitik

Geschrieben am 20-09-2015

Bielefeld (ots) - Es beginnt die Woche der Wahrheit, und sie
beginnt denkbar schlecht. Wieder tote Flüchtlinge im Mittelmeer,
Chaos auf der Balkanroute, Hickhack zwischen den osteuropäischen
Ländern, die sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben, indem
sie hilfesuchende Menschen hin- und herschieben. Und wieder gibt es
hierzulande Brände, wo Flüchtlinge unterkommen sollten - dieses Mal
im baden-württembergischen Wertheim und in Laage bei Rostock. Es ist
eine wahre Schande! Der Umgang mit den abertausenden Flüchtlingen
führt Europa an den Abgrund, wie es die Griechenland-Krise zu keiner
Zeit vermocht hat. Und die Deutschen entzweien sich zwischen
Humanität und der Sorge vor Überforderung. Debatten werden dabei zu
oft nur noch zwischen den Extremen geführt. Die Wortwahl markiert
einen eklatanten Mangel an Differenzierung: Zwischen
»Gutmenschentum« hier und »Pack« dort, beides ganz und gar
verächtlich gemeint, bleibt kaum Raum für Zwischentöne. Dabei
brauchen wir gerade jetzt einen möglichst offenen Diskurs darüber,
wie die Integration der Flüchtlinge gelingen kann und auch darüber,
was alles misslingen könnte. Wer die Probleme leugnet, der macht sie
nur größer. »Totschweigen« hilft niemandem, der eine weltoffene und
liberale Gesellschaft will. Wir brauchen Realismus und vor allem
Ehrlichkeit. Integration kann nur im Konflikt gelingen. Die
Aufgabe, vor der wir stehen, ist ein wahrer Marathon. Und dabei
sind Rückschläge und Enttäuschungen durchaus normal. So
beeindruckend das zivilgesellschaftliche Engagement in Deutschland
seit Wochen ist, so dringend braucht es einen verlässlicheren
Rahmen. Die neue deutsche Lässigkeit nützt nichts ohne verbindliche
Politik und ein funktionierendes Rechtssystem. Gewiss ist das
Grundgesetz die unverbrüchliche Basis unseres Handelns, aber Städte
und Gemeinden müssen dringend raus aus dem permanenten
Krisenreaktionsmechanismus, der auf Dauer nicht durchzuhalten ist.
Diese Woche wird dafür Hinweise geben müssen. Die Politik ist am
Zug. Das gilt für das Treffen der EU-Innenminister morgen und den
EU-Sondergipfel am Mittwoch in Brüssel wie für das
Bund-Länder-Treffen am Donnerstag in Berlin. Der Fragen- und
Aufgabenkatalog ist riesig, die Ratlosigkeit ist es auch. Und
dieses Mal geht um mehr als »nur« ums Geld. Europa muss den Beweis
antreten, dass es die Wertegemeinschaft ist, als die es sich nur zu
gern darstellt. Dabei werden viele unangenehme Wahrheiten auf den
Tisch kommen - auch für Deutschland. Denn so unwürdig der Umgang der
Ungarn mit den Flüchtlingen ist, so sehr werden die europäischen
Länder mit einer EU- Außengrenze von der Staatengemeinschaft im Stich
gelassen. Auch Italien und Griechenland wissen davon ein Lied zu
singen. Auch die Wirtschaft steht in der Pflicht zur Aufrichtigkeit.
Gerade in Deutschland wird der Zustrom von Flüchtlingen gern als
Lösung für das Problem des Fachkräftemangels beschworen. Doch so
richtig es ist, hier jede Chance zu nutzen, so richtig ist auch, dass
nicht nur Ärzte und Ingenieure zu uns kommen. Ja, es kommen auch
viele Analphabeten ins Land, was eine der elementarsten Fragen
aufwirft: Wie schaffen wir es, dass die Flüchtlinge ohne jede
Ausnahme und ohne jeden Verzug unsere Sprache lernen, ohne die
jede Integration scheitern muss? Denn auch daher rühren die Sorgen
vieler Menschen. Es sind Sorgen, die man ernst nehmen muss, weil sie
nicht verschwinden, wenn nicht mehr darüber gesprochen wird. Im
Gegenteil. Und ja, es sind Sorgen, die auch die Kulturunterschiede,
den anderen Umgang zwischen den Geschlechtern und verschiedene
religiöse Identitäten betonen. Auch hier darf unsere Verfassung
nicht zur Disposition stehen. Wer bei uns leben will, muss unsere
Regeln annehmen und achten - ohne Ausnahme. Und schließlich: Viele
Ängste mögen irrational sein, aber es muss eine Möglichkeit geben,
sie zu äußern, ohne sofort im Verdacht zu stehen, rechtsradikal zu
sein. Das gilt umso mehr, da es Verteilungskämpfe geben wird. Schon
jetzt ist in den Ballungsräumen zu beobachten, dass sich der ohnehin
zu knapp bemessene Wohnraum für Gering- und Normalverdiener weiter
verteuert und für viele unerschwinglich wird. Das ist natürlich nicht
die Schuld der Flüchtlinge, aber es ist eben auch eine Folge davon,
dass jetzt deutlich mehr Menschen nach einer menschenwürdigen
Bleibe suchen. Dabei ist Deutschland überaus privilegiert.
Unsere Wirtschaftskraft versetzt uns ja erst in die Lage, umfassend
zu helfen. Und macht uns als Fluchtziel so attraktiv. Doch das
Wohlstandsgefälle innerhalb Europas ist groß - auch das ist ein
Grund dafür, warum die Staaten bisher so wenig mit einer Stimme
sprechen. Ganz zu schweigen von der dramatischen Situation in den
Flüchtlingslagern in der Türkei, im Libanon und in Jordanien. Hier
werden wir sehr schnell sehr viel mehr als bisher tun müssen. Was
auch zu der Frage führt, welche Verantwortung Deutschland in der
internationalen Sicherheitspolitik zu übernehmen bereit ist. Schon
bald könnte klar werden, dass diese Verantwortung mehr Einsatz
erfordert, als es vielen Deutschen lieb sein dürfte. Wenn Syrien
eine Zukunft haben soll, wird es ohne Intervention von außen wohl
kaum gehen. Wo stehen wir dann? Trotz alledem aber muss die
Integration der Flüchtlinge, die schon bei uns sind, gelingen. In
unserem eigenen Interesse. Und es werden weitere Menschen kommen.
Niemand kann es ihnen verdenken. Oder würden Sie persönlich eine
Chance auf ein besseres Leben ungenutzt lassen - erst recht, wenn es
womöglich die letzte sein könnte?



Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261


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