(Registrieren)

Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Christian Kucznierz zu EU/Flüchtlingspolitik

Geschrieben am 01-12-2013

Regensburg (ots) - Gerade einmal zwei Monate ist es her, als vor
Lampedusa 300 Menschen ertranken. Sie suchten ein besseres Leben und
fanden den Tod vor den Toren der Europäischen Union. Der Aufschrei
damals war groß. Geändert hat sich nichts. Das ist erbärmlich. Zwar
startet die EU heute ihr Hightech-Grenzsystem Eurosur, mit dem
Flüchtlingsbewegungen überwacht werden sollen. Auch mit dem Ziel,
frühzeitig helfen zu können. Zweifel sind angebracht. Das System ist
2008 zur Bekämpfung illegaler Einwanderung geplant worden. Und eine
bessere Überwachung beseitigt das Problem nicht. Niemand verlässt
gerne seine Heimat, seine Familie, sein Leben. Aber manche müssen es
tun. Weil sie verfolgt werden. Oder schlicht, weil Krieg, Hunger und
Armut sie bedrohen. Sie fliehen tausende von Kilometern zu Fuß oder
auf klapprigen Lastwagen, um sich am Ende in die Hände von Schleppern
zu begeben, die sie für Tausende von Euro in überfüllte Boote
verladen, von denen viele ihr Ziel nie erreichen. Und in Europa ist
man insgeheim froh, wenn die Boote abgefangen oder zurückgedrängt
werden, wenn sie umkehren, denn dann muss man die Frage nicht
beantworten, was man mit ihnen anfangen soll. Bislang verfährt die EU
nach dem Grundsatz, dass das Mitgliedsland, in dem die Flüchtlinge
Asyl beantragen, auch für sie verantwortlich ist. Kein Wunder, dass
Staaten wie Deutschland kein Interesse haben, etwas am bestehenden
Asyl-System zu ändern. Weil es das Problem an die Grenzen auslagert,
nach Italien oder Griechenland. Wie wenig es dadurch gelöst wird,
sieht man an der Zahl der Menschen, die heuer über das Mittelmeer in
die EU zu gelangten. Die UN zählen über 30 000. Die Zahl derer, die
beim Versuch starben, kennt niemand. Und es kommen immer mehr. Aus
Syrien sind mittlerweile geschätzte drei Millionen Menschen geflohen,
registriert hat die UN-Flüchtlingsorgansation UNHCR bislang 2,2
Millionen, viele davon Kinder. Und Syrien ist nur ein Krisenherd von
vielen in der Nachbarschaft der EU. Abschottung kann angesichts
dessen keine Lösung sein. Der Kampf gegen Schleuserbanden ist wenig
mehr als Aktionismus. Ja, es stimmt: Weniger Schleuser bedeuten
weniger illegale Zuwanderer und weniger Tote auf dem Weg. Aber
erstens ist kein Mensch illegal. Zweitens werden diejenigen, die
verzweifelt sind, weiterhin versuchen, eine neue, sichere und bessere
Heimat für sich und ihre Familien zu suchen. Drittens ist die EU, und
nicht nur sie, gefordert, ehrlich zu sein. Die Industriestaaten
müssen ihr postkoloniales Nutzdenken beenden. Es ist nicht nur so,
dass die Regierungen in London, Paris oder Berlin kein Konzept haben,
wie sie mit der Flüchtlingsschwemme umgehen sollen. Sie verschärfen
viele der Probleme noch zusätzlich. Die Wirtschaft der EU-Staaten
überschwemmt afrikanische Märkte mit Waren und verdrängt lokale
Hersteller, die keine Chance gegen die billigen Importe haben. Aber
nur, wenn vor Ort die Voraussetzungen geschaffen werden, dass
Menschen in Sicherheit und ohne Not leben können, werden sie nicht
mehr ihr Heil in der Flucht suchen. Unterdessen wird kein Weg an
einer gesteuerten Zuwanderung nach Europa vorbei führen. Inmitten von
Krisen und Armut ist der Kontinent eine Insel der Glückseligen.
Daraus ergeben sich Aufgaben, aber auch Chancen. Viele der
Flüchtlinge können und würden gerne einen Beitrag in den Ländern
leisten, in denen sie ankommen. Sie sind meist jung und gut
ausgebildet. Das Potenzial von Migranten im Kampf gegen
Fachkräftemangel und demografischen Wandel wird bis heute
vernachlässigt, Förderung und Integration beginnen viel zu spät.
Starre Residenzpflichten tun ihr Übriges dazu, dass viele Flüchtlinge
keine Chance bekommen, sich einzubringen. Asylpolitik heute ist auch
Abschreckungspolitik. Damit muss Schluss sein. Es geht um Menschen.
Nicht um Kriminelle. "Das Boot ist voll!" ist ein alter Slogan im
Zusammenhang mit Asylpolitik. Ein krudes Bild. Das einzige Boot, das
voll ist, ist das nächste, das vor Lampedusa stranden wird. Europa
ist ein Kontinent, der über Jahrhunderte durch Flucht, Migration,
Krieg und Vertreibung definiert war und von diesen Erfahrungen
geprägt ist. Hier heute geboren zu sein ist Zufall, hier zu leben
eine Gnade. Wenn Europa sich christlicher Werte verpflichtet sieht -
und dieses Argument nicht nur dann ins Feld führt, wenn es um ein
Nein zum Türkei-Beitritt geht - dann ist es unsere Pflicht, diese
Gnade auch anderen angedeihen zu lassen.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

499991

weitere Artikel:
  • Westdeutsche Zeitung: Auf dem Weg zur selbstgefälligen Koalition = von Martin Vogler Düsseldorf (ots) - So ein Koalitionsvertrag ist keine Bibel, hat Altkanzler Gerhard Schröder einst gesagt. Wie wahr, denn sogar bei der Interpretation des aktuellen Papiers passiert Verblüffendes, bevor die SPD-Basis überhaupt zugestimmt hat. Während etwa die Union stolz betont, dass sie den sozialdemokratischen Wunsch nach Steuererhöhungen abgeschmettert hat, schließt bereits SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles just eine solche Mehrbelastung der Bürger nicht aus. Und in Sachen Pkw-Maut blickt angesichts ständig variierender Deutungen mehr...

  • DER STANDARD-Kommentar: "Ein Reformrennen, das sich lohnt" von Eric Frey Bei Pensionen war Österreich bisher ein schlechtes Vorbild - das könnte sich ändern (Ausgabe ET 2.12.2013) Wien (ots) - Es ist ärgerlich zu sehen, wie politische Parteien von den Fehlern anderer nichts lernen: Die SPD_hat im Koalitionsvertrag unter dem Slogan "45 Jahre sind genug" eine abschlagsfreie Frühpension für Langzeitbeschäftigte durchgesetzt - eine Kopie der österreichischen Hacklerpension, deren desaströse Folgen nun erst mühsam beseitigt werden. Insgesamt strotzt das deutsche Regierungsprogramm im Rentenkapitel von mehr...

  • Rheinische Post: Kommentar / In der Ukraine gärt es = Von Godehard Uhlemann Düsseldorf (ots) - Es ist ein beeindruckendes Bekenntnis Hunderttausender Ukrainer zu Europa, und die Bilder ähneln denen der prowestlichen Orangenen Revolution von 2004 der heute im Gefängnis sitzenden Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko. Die Menschen gehen auf die Straße, sie fordern den Rücktritt von Präsident Janukowitsch, der ihrer Meinung nach die Annäherung des Landes an die Europäische Union behindert. Sie haben damit nur zum Teil recht. Die Massen in den Straßen von Kiew, die einen Regierungswechsel fordern, verkennen den mehr...

  • Westfalenpost: Westfalenpost zur Entwicklung in Thailand Hagen (ots) - Eine Regierungschefin, die vor Demonstranten flieht, Tote und Verletzte in Bangkok. Wieder einmal steht Thailand vor der Zerreißprobe. Mit bangen Blicken verfolgen Urlauber aus Deutschland die Entwicklung. Die Hauptreisezeit startet. Jedes Jahr sind es 650 000 Bundesbürger, die vornehmlich Ziele im Süden des Landes, in Phuket oder Koh Samui, ansteuern. Aus 9000 Kilometer Entfernung fällt es nicht leicht, die Hintergründe für die politische Lage zu verstehen.

    Das Spiel der Farben, die Gelben gegen die Roten, mehr...

  • Rheinische Post: Kommentar / SPD: Mehrheit in Sicht = Von Detlev Hüwel Düsseldorf (ots) - Mit dem Verlauf der Regionalkonferenz mit 900 Genossen im westfälischen Kamen kann die SPD-Führung durchaus zufrieden sein. Wenn diese Veranstaltung ein Lackmustest für den bevorstehenden Mitglieder-Entscheid zum Koalitionsvertrag wäre, müsste sich Parteichef Sigmar Gabriel keine Sorgen über das Ergebnis machen. Doch Kamen ist ebenso wenig repräsentativ wie die anderen Veranstaltungen dieser Art. Wie reagieren diejenigen Parteimitglieder, die vergrätzt sind, weil sie Wahlkampf gegen eine Union geführt haben, die mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht