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Landeszeitung Lüneburg: Licht am Ende des Tunnels / Europaabgeordnete Rebecca Harms (Grüne) begrüßt Neuanfang bei der Suche nach Atom-Endlager

Geschrieben am 27-03-2013

Lüneburg (ots) - Ein echter Neuanfang oder alter Wein in neuen
Schläuchen? Ein Kompromiss zwischen dem Bund und Niedersachsen soll
eine Ära von fast vier Jahrzehnten der Hinterzimmerabsprachen zu
einem Atomüll-Endlager endgültig beenden. Ûber eine Enquetekommission
soll die Gesellschaft bei der Suche nach einem Ort fÏr den
gefährlichen Müll mitbeteiligt sein. Rebecca Harms, Ikone des
Widerstands im Wendland, glaubt: "Das erhöht die Chancen für
Gorlebengegner."

Sind Atomkraftgegner so sehr an Stillstand gewöhnt, dass sie
"Bewegung in der Endlagerfrage" bejubeln, obwohl eigentlich die
Parteien nur ihre Wahlkampferstarrung gelockert haben?

Rebecca Harms: Der Kompromiss zwischen dem Land Niedersachsen und
dem Bund läuft darauf hinaus, dass noch in dieser Legislaturperiode
versucht wird, ein noch mal geändertes Endlagersuchgesetz zu
verabschieden. Anders als im bisherigen Entwurf soll z.B. der
Rechtsschutz möglicher Betroffener gestärkt werden. Neu verankert
werden soll eine Enquetekommission, die alle Fragen, Zweifel und
Herausforderungen der tiefen geologischen Endlagerung bearbeiten
soll. Grund zum Jubel ist das nicht. Der Kompromiss ist aber
geeignet, einen Neuanfang vorzubereiten. Vor allem die
Enquetekommission birgt nach den Absprachen hinter verschlossenen
Türen und jahrzehntelanger Ignoranz die große Chance, sich über das
Problem Atommüll und seine Lösung fundiert zu verständigen. Ein
Neubeginn setzt die Aufarbeitung der Fehler von 35 Jahren
Endlagersuche voraus - Fehler, die zum Asse-Desaster führten.
Bewertet werden müssen auch die Ergebnisse der Endlagerforschung
anderer Länder. Wenn ernsthaft versucht wird, einige der
grundsätzlichen Fragen zur Endlagerung in einem großen öffentlichen
Prozess zu beantworten oder einer Klärung näher zu bringen, ist ein
Neubeginn möglich. Bleibt man dagegen in der Spur der letzten
eineinhalb Jahre und dem Gesetz, das zwischen Staatskanzleien und dem
Bundesumweltministerium ausgehandelt wurde, ist die
Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass es nicht um einen Neubeginn,
sondern um die Durchsetzung Gorlebens geht.

Von der weißen Landkarte ist der Standort nicht verschwunden. Ist
das Aus für das Endlager Gorleben nähergerückt oder das Endlager?

Harms: Vor zu viel Optimismus muss ich warnen. Nach mehr als drei
Jahrzehnten Auseinandersetzung und Konflikt um Gorleben bin ich
realistisch. Ich weiß, wie schwer es ist, bereits geschaffene
Tatsachen zu korrigieren. Ich kenne aber auch die geologischen
Befunde zu Gorleben und weiß, warum der Standort ungeeignet ist. Die
Chance, Gorleben zu kippen, wird größer nach einer qualifizierten
Beschäftigung mit den geologischen Mängeln und den Defiziten der
Standortauswahl in der Enquetekommission. Der Kompromiss bietet also
auch eine Chance für die Gorleben-Gegner.

Besteht die Gefahr, dass Länder oder Atomwirtschaft auf bestehende
Verträge pochen und so die Untersagung der weiteren Einlagerung von
Castoren im Zwischenlager torpedieren?

Harms: Technisch dürfte die Zwischenlagerung der Castoren in
anderen Lagern kein Problem sein. Die neuen Standortzwischenlager
sind zum Teil noch stabiler, da sie gegen Flugzeugabstürze ausgelegt
sind. Politisch ist dies eine Herausforderung, aber eine lösbare.
Entlang der bisherigen Verhandlungen zum Endlagersuchgesetz wurde
betont, dass andere Bundesländer sich für Endlagerstandorte öffnen
wollten. Diese Offenheit könnte mit der Übernahme von Müll aus dem
Ausland zur Zwischenlagerung anfangen. Die Länder, aber auch die
Atomwirtschaft könnten so ernsthaftes Interesse am Neubeginn
untermauern.

Was nützt eine Kommission, deren Empfehlungen für die
Endlagersuche nicht bindend sind?

Harms: Die Ergebnisse der Enquetekommission können nicht bindend
sein, denn der Gesetzgeber darf nicht ausgehebelt werden. Wichtig
ist, dass die Kommission und die Neubewertung des Gesetzes unter
Berücksichtigung ihrer Ergebnisse im Gesetz verankert werden. Der
bessere Weg wäre, erst die Beratungen der Enquetekommission
abzuwarten und dann das Gesetz zu formulieren. Aber dafür gibt es bis
jetzt keine Mehrheit in Bund und Ländern.

Stiehlt sich die Politik aus der Verantwortung, indem sie
Interessenkonflikte in eine Kommission auslagert?

Harms: Nein, denn hier wird nicht ein Konflikt ausgelagert sondern
neu und angemessen zur Debatte gestellt. Die Jahrhundertaufgabe
Endlagerung kann nicht stellvertretend durch die Politik gelöst
werden. Es ist unbedingt erforderlich, dafür einen gesellschaftlichen
Konsens zu suchen. Die breite Einbeziehung der Gesellschaft über die
Enquetekommission halte ich für einen großen Fortschritt und werde
mich dafür einsetzen, dass eine gute Zusammenarbeit zwischen Politik,
Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Industrie gelingt.

Transparenz im Verfahren und gesellschaftliche Beteiligungen in
der Kommission lösen keinen einzigen Interessengegensatz. Werden
diese Faktoren überschätzt?

Harms: Noch haben nicht viele Länder Erfahrungen mit der
Vorbereitung einer Endlager-Standortsuche gemacht. Was man aber in
Schweden oder in der Schweiz lernen kann, ist, dass es überhaupt nur
eine Chance auf die Zustimmung der Bürger zur Übernahme dieser
immensen Verantwortung und Bürde gibt, wenn man wesentliche Fragen
zur Endlagerung und zum Auswahlverfahren gemeinsam und
nachvollziehbar klärt. Das steht auch nicht im Widerspruch zu dem
Anspruch, dass die Wissenschaft die Basis liefern muss. Aber die
Wissenschaft muss sich in der Debatte erklären und behaupten. Ich
denke nicht, dass die Gesellschaft bei jedem Thema umfassend
eingebunden werden will. Ich halte es aber für ausgeschlossen, ein
Endlager in Deutschland zu finden ohne umfassende Mitsprache in einem
von A bis Z transparenten und auch korrigierbaren Verfahren.

Zweigeteilte Frage: Welche Grundsatzfragen sind in Bezug auf
Gorleben noch nicht gestellt worden, die die Kommission klären soll?
Und: Besteht die Gefahr, dass sich die Kommission in lauter
Vergangenheitsbewältigung verzettelt?

Harms: Systematisch geklärt werden muss zum Beispiel die Frage, ob
wir ein Endlager wollen, in dem der Atommüll rückholbar bleibt. Oder
reicht es, die Wiederauffindbarkeit des Atommülls zu gewährleisten?
In Deutschland wurde früh und ohne Debatte gegen Rückholbarkeit
entschieden. Klärt man diese Frage nicht verständlich, dürfte man
spätestens bei der Benennung von Suchregionen mit der Forderung
konfrontiert werden, dass der Atommüll, wenn überhaupt, dann nur
rückholbar gelagert werden soll. Rückholbarkeit scheint wie ein
Versprechen, Fehler wieder gut machen zu können. Dabei müssen
Wissenschaftler heute zugeben, dass dieses Versprechen schwer
erfüllbar ist, dass es auch nur für eine relativ kurze Zeit gegeben
werden kann. Zur zweiten Frage: Rekapituliert man die Ergebnisse des
Untersuchungsausschusses Asse, kann man nicht zu dem Schluss kommen,
dass wir uns verzetteln, wenn wir versuchen, Lehren aus alten Fehlern
zu ziehen. In der Asse lagert weniger als ein Hundertstel des
radioaktiven Materials, das ein durchschnittlicher Castor in Gorleben
enthält. Vergegenwärtigt man sich die Schwierigkeiten, die wir in der
Asse beim Korrigieren der dort gemachten Fehler haben, ist klar,
welche Sorgfalt beim Umgang mit hochradioaktivem Material geboten
ist.

Müsste nicht in Granit und Ton ähnlich aufwendig erkundet werden
wie im Wendländer Salz, um echte Vergleichswerte zu bekommen?

Harms: Eine ergebnisoffene Suche muss alle geeigneten Geologien
umfassen. Aus den Laboren untertage in Schweden und der Schweiz
kommen relevante Ergebnisse zu Ton und Granit. International werden
Ton, Granit und Salz verfolgt. In Deutschland wurde ohne
wissenschaftliche Begründung allein Salz betrachtet. Auch das muss
sich ändern.

Wie schwer wiegt das Argument von 1,6 Milliarden bereits in
Gorleben verbauten Euro?

Harms: Einerseits ist das eine riesige Summe. Andererseits kostet
die Sanierung der Asse ein Vielfaches dieser Summe. Und wie bewertet
man die Gefahr für Mensch und Umwelt? Wer wider besseren Wissens in
Gorleben das Endlager weiterverfolgt, sollte sich bewusst sein,
welche Folgen daraus erwachsen können.

Gesetzt den Fall, eine Erkundung auch durch kritische
Wissenschaftler würde das Ergebnis erbringen, Gorleben wäre als
Standort geeignet. Gäbe es irgendeine Konstellation, die das Wendland
akzeptieren würde?

Harms: Nach den Kriterien der Salzstudie aus den Neunziger Jahren,
die noch von Umweltminister Töpfer in Auftrag gegeben und unter
Ministerin Merkel abgeschlossen wurde, war Gorleben weit von der
ersten Reihe geeigneter Salzstöcke entfernt. Wer nach dem
bestgeeigneten Salzstock sucht, muss deshalb eigentlich Gorleben
aufgeben. Da dieses Vorgehen keine Mehrheit hat, empfehle ich, die
Rolle Gorlebens nach Abschluss der Enquete zu entscheiden. Die
Kommission muss einen Vorschlag für die Konzeption des Endlagers und
für ein Such- und Auswahlverfahren erarbeiten. Das Verfahren so zu
entwickeln, dass wissenschaftliche Anforderungen und das Vertrauen
der Bürger gewährleistet sind, ist aus meiner Sicht die Hauptaufgabe
der Kommission.

Was, wenn die Kriterien der Kommission und neue Expertisen einen
Granitstandort in Bayern nahelegen - und der Widerstand dort nicht
weniger stark ist als in Gorleben?

Harms: Die einzige Chance, dass nicht alles am Widerstand
scheitert, ist, auf Verständigung und Transparenz zu setzen. Dazu
gehört, dass jedes auftretende Problem, jede Frage, jeder Zweifel
transparent und glaubhaft geklärt wird. Ansonsten wird der Widerstand
an möglichen Standorten härter sein als wir ihn in Gorleben schon
erlebt haben.

Verheben wir uns nicht generell mit einer Technologie, die ein
Endlager erfordert, dass eine Million Jahre sicher sein soll?

Harms: Lange Jahrzehnte habe ich die Ansicht vertreten, dass die
tiefengeologische Lagerung von Atommüll besser sei als die
oberirdische Langzeitlagerung - auch "Hüte-Konzept" genannt. Heute
betonen Wissenschaftler, dass immer mehr Fragen auftauchen, je
intensiver sie in Untertagelaboren forschen. Bevor eines Tages die
Endlagerung beginnen kann, sollten wir uns sicher sein, allen Fragen
ausreichend nachgegangen zu sein. Ich bin mir aber nach den langen
Jahren der Beschäftigung mit diesem verfluchten Thema bewusst, dass
der mögliche Beginn der Endlagerung kaum vor 2070 wahrscheinlich ist.
Lange nach mir also. Weil es also kurzfristige Lösungen nicht geben
kann, sind wir nach 35 Jahren Stümperei zu verantwortlichem Handeln
verpflichtet. Die Enquetekommission eröffnet dafür eine Chance, die
wir nutzen sollten.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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