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Landeszeitung Lüneburg: Europas Integrations-Ära ist vorbei / Politologe André Kaiser: Aufstand der Wohlhabenden zeigt, dass Europäer sich nicht als Schicksalsgemeinschaft sehen

Geschrieben am 13-12-2012

Lüneburg (ots) - In seiner größten Krise schwingen sich nicht
viele zu Verteidigern Europas auf. Im Gegenteil: Manche Regionen
erinnern sich daran, dass sie eigentlich wohlhabend sind, proben die
Abspaltung von ihren Staaten. "Die Wohlstands-Aufstände sind
gefährlich für Europa", sagt der Kölner Politologie-Prof. Dr. André
Kaiser. "Europa sieht sich nicht als Schicksalsgemeinschaft."

Die Lombardei gegen Sizilien, Flandern gegen Wallonien, Südengland
gegen Nordengland, auch Bayern will nicht mehr so viel für Bremen
zahlen: Erlebt Europa einen Aufstand der wohlhabenden Regionen?

Prof. André Kaiser: Zum Ersten muss man ganz grundsätzlich
konstatieren, dass wir zurzeit allgemeine Entsolidarisierungsprozesse
erleben. Die Bereitschaft der Bürger, anderen zu helfen, sinkt.
Einzige Ausnahme von diesem Trend ist die nach wie vor ungebrochene
Bereitschaft, zu spenden - etwa nach Naturkatastrophen. Werden die
Bürger emotional berührt, verhalten sie sich solidarisch. Die
Bereitschaft sinkt aber, wenn staatliche Ins"titutionen diese
Solidarität einfordern. Zum Zweiten muss man den Befund "Aufstand der
Wohlhabenden" noch differenzieren: Er ist vor allem festzustellen in
Gesellschaften, die noch keine Identität ausgebildet haben. Innerhalb
Deutschlands ist die Bereitschaft zur Solidarität deshalb höher als
über Ländergrenzen hinweg. Extrem gering ist die Bereitschaft
gegenüber Europa, weil noch keine kollektive europäische Identität
ausgebildet wurde.

Führt diese fehlende kollektive Identität dazu, dass die Ära des
übernationalen Zusammenwachsens in Europa bereits wieder vorbei ist?

Prof. Kaiser: Ja, sie ist schon wieder vorbei. Der Hauptgrund ist
der Wegfall des ursprünglichen Motivs. Das europäische Projekt wurde
angeschoben vor dem Hintergrund einer gesamteuropäischen
Katastrophenerfahrung - dem Zweiten Weltkrieg. Die Nationen wollten
kollektive Sicherheit herstellen. Mittlerweile sieht sich Europa
klassischer militärischer Bedrohung aber nicht mehr wie bisher
regional gegenüber, sondern weltweit. Zudem ist die Gefährdung durch
Terror größer als die durch klassische Kriege. Und hier ist schwer zu
erkennen, inwiefern die EU eine Antwort liefern könnte. Damit entfiel
ein starker Antrieb für die Integration. Dennoch geht die Integration
immer weiter. EineEURVielzahlEURvon Kompetenzen und
Entscheidungsprozessen, die bisher auf nationalstaatlicher Ebene
angesiedelt waren, gehen über auf die europäische Ebene - stärker,
als in den Verträgen vorgesehen. Diese Integration wurde nicht von
einer kollektiven Identitätsbildung der europäischen Gesellschaft
begleitet. Das ist der Grund, warum das europäische Projekt an seine
Grenzen gestoßen ist.

Wenn Katalonien nicht mal bereit ist, sein Geld mit Andalusien zu
teilen, ist dann die Idee eines Wohlstandstransfers nach Sizilien nur
noch ein Eliten-Projekt?

Prof. Kaiser: Europa war immer ein Eliten-Projekt, weil den
Bürgern schwer zu vermitteln war, was genau hinter europäischen
Entscheidungen steht. Der Grund liegt auch darin, dass es keine
wirkliche europäische Gesellschaft gibt mit einer gemeinsamen
Sprache, gemeinsamen Medien, einer gemeinsamen politischen
Öffentlichkeit. Peter Graf Kielmansegg hat dies schön formuliert:
"Europa ist keine Schicksalsgemeinschaft." Der Zusammenbruch der
Zivilisation im Zweiten Weltkrieg hat dieses Momentum hineingebracht,
das den anfänglichen Erfolg des Integrationsprozesses bewirkte. Aber
dieser Impuls verflog.

Schicksalsgemeinschaft war Europa auch noch im Kalten Krieg. So
lange schwelte der keltisch-angelsächsische Gegensatz zwischen
Schotten und Engländern unterschwellig. Brauchte es das Ende des
ideologischen Ost-West-Gegensatzes, um nationale Grenzen ins Wanken
zu bringen?

Prof. Kaiser: Nein. Die Herausbildung einer eigenständigen
schottischen Identität reicht weit in die Geschichte zurück. Die
politische Mobilisierung dieser Identität - mit den Konsequenzen:
eigenes Parlament, eigene Regierung und nun sogar der Option einer
Abspaltung - begann in den 1970er-Jahren. Sie wurzelt in der
Deindustrialisierung Schottlands und wurde emotional massiv
aufgeladen in der Ära Thatcher. Diese Regierung konnte in Schottland
zeitweilig keinen einzigen Wahlkreis gewinnen, verfügte also über
keinen wirklichen politischen Rückhalt. Dennoch sorgten die Kabinette
Thatcher in dieser Region unbeirrt für einen Kahlschlag bei den Jobs.
In dieser Zeit, also lange vor Ende des Kalten Krieges, begannen die
Wahlerfolge der schottischen Nationalisten. Hier haben wir also den
Sonderfall, dass nicht die sprudelnden Einnahmen aus dem Nordsee-Öl
die Ablösungstendenzen bestärkten, sondern der relative Niedergang
gegenüber dem wohlhabenden Süden Großbritanniens.

Steigt in einem supranationalen Gebilde das Bedürfnis, sich
kleineren, identitätsstiftenden Einheiten zugehörig zu fühlen?

Prof. Kaiser: Ich denke, das ist ein Motiv, das die
Sozialwissenschaften lange nicht ernst genommen haben. Es herrschte
lange die Vorstellung, dass durch den gesellschaftlichen
Modernisierungsprozess die emotionale Unterfütterung einer
kollektiven Identität überflüssig würde, weil der
Individualisierungstrend stärker wäre. Nun ist interessant, dass sich
gerade in wirtschaftlich erfolgreichen Regionen ein solches
Identitätsgefühl ausbildet.

Schlägt das Pendel zurück: Weil Politiker das Verbindende betonen,
klammern sich die Bürger an das Trennende?

Prof. Kaiser: Nun, das machen Politiker kaum noch. Sie sehen ja
auch, wie sich die Einstellungen ändern. Weil Europa bereits negative
Gefühle hervorruft, werden bei der Frage, inwieweit man Griechenland
hilft, zweckrationale Argumente ins Feld geführt, etwa: Das seien
unsere Exportmärkte. Da wird nicht mehr Solidarität beschworen,
sondern die Verfolgung von Eigeninteressen.

Was unterscheidet den Freiheitsdrang der Südtiroler von dem der
Kurden?

Prof. Kaiser: Das Kurden-Problem ist gänzlich anders gelagert als
die Minderheitenprobleme in Europa. Seit Kemal Atatürk steht es auf
der Tagesordnung, seit alle anderen ethnischen Minderheiten aus der
Türkei verschwunden sind - auf unterschiedlichen Wegen. Erst in
allerjüngster Zeit ist eine gewisse Akzeptanz der kulturellen
Identität der Kurden festzustellen, aber ihre politische Vertretung
ist durchgängig abgelehnt worden. Unter demokratischen Bedingungen
geht das so nicht. Hier muss man die Selbstbestimmungsambitionen
ethnischer Minderheiten mit politischen Mitspracherechten befrieden.
Regionen, die sich als besonders wahrnehmen - im spanischen Beispiel
etwa Katalonien, Galizien und das Baskenland - achten eifersüchtig
darauf, mehr Rechte zu erhalten als die anderen Regionen. Es kommt zu
einem Aufschaukelungsprozess, der immer mehr in Richtung Verlagerung
der Kompetenzen und Ressourcen von der nationalstaatlichen Ebene auf
die Regionen gekennzeichnet ist. Und wenn es dann in diesen Regionen
noch zusätzlich einen Wettbewerb zwischen Parteien gibt, wer die
Minderheit vertreten darf, gibt oft die radikalste Partei den Ton an.
So erleben wir es jetzt in Katalonien, wo die moderate
Regierungspartei durch eine linke, sezessionistische Partei
herausgefordert wird, sich anpasst und ebenfalls ein
sezessionistisches Referendum fordert. Allerdings ohne Erfolg: Die
Wähler honorierten das Original.

Wie passt das Baskenland in dieses Bild? Erwägt die ETA die
Selbstauflösung, weil die anderen Parteien ihre Programmatik
übernommen haben?

Prof. Kaiser: Zunächst haben wir hier auch ethnischen Wettbewerb
zwischen der dominierenden baskischen nationalistischen Partei (PNV)
und radikalen linken Gegnern. Anders als in Katalonien haben letztere
aber einen militärischen Flügel, dessen bekannteste Gruppe die ETA
ist. Dass in diesem Fall die moderate Kraft der PNV die Oberhand
behalten hat, liegt vermutlich daran, dass Terrorismus von der
Mehrheit der Basken abgelehnt wird. Dass die ETA nun vor der
Selbstauflösung steht, liegt an einer geschickten, kombinierten
Politik: Einerseits Zugeständnisse an das Baskenland, das - anders
als Katalonien - sogar eigene Steuern erheben darf. Andererseits eine
intensive Bekämpfung der ETA durch die Sicherheitsorgane.

Gibt es Schnittmengen zwischen den regionalen Nationalismen in
Belgien, Spanien, Italien, Großbritannien etc. und populistischem
Nationalismus?

Prof. Kaiser: Es fällt mir schwer, Schnittmengen zu finden
zwischen den berechtigten Forderungen regional konzentrierter,
ethnischer Minderheiten und einem Nationalismus, der
Selbstbestimmungsrechte nur als vorgeschobenes Argument benutzt. Man
kann nicht im Ernst die Ziele der Lega Nord oder der Vlaams Belang
mit denen der katalanischen Regierungspartei CiU oder der
Schottischen Nationalpartei SNP vergleichen.

Birgt das Konzept einer Kulturnation, die sich über Sprache und
Geschichte definiert, nicht die Gefahr, dass es Einfallstor für
Bündnisse mit traditionellen Nationalisten sein kann?

Prof. Kaiser: Die Gefahr besteht immer. Aber die nationalistischen
Parteien etwa in Spanien und Schottland sind aufgeklärte Parteien,
die nicht mit der traditionellen Identifikationsfigur der
Kulturnation argumentieren. So ist die schottische Identität nur in
Randbereichen - wie etwa Fußball - eine kulturelle. Hauptsächlich
versteht sie sich als politisches Gegenprojekt zum neoliberalen Abbau
des Staates. Im Falle der Lega Nord und der Flämischen Separatisten
geht es nur um Wohlstands-Chauvinismus.

Entlarvt der Aufstand der wohlhabenden Regionen die Dürftigkeit
einer EU-Legitimation ausschließlich über Wohlstand?

Prof. Kaiser: Eindeutig ja. In der Tat ist das europäische Projekt
bisher vorrangig legitimiert worden über Leistungen wie einen
wachsenden Binnenmarkt und steigenden Wohlstand. Fritz Scharpf, ein
wichtiger deutscher Politikwissenschaftler, nennt das
Output-Legitimität. Diese ist an die Stelle dessen getreten, was
Demokratien üblicherweise legitimiert, nämlich der Input, also den
Präferenzen, die Bürger in das System einspeisen, den Einfluss, den
sie etwa über Wahlen auf ihre Repräsentanten nehmen. Letzteres ist in
der EU nur ganz begrenzt und vermittelt möglich. Und ich kann nicht
sehen, wie wir dieses Legitimationsdefizit in den Griff bekommen
können, ohne den nächsten Schritt zu gehen, also ein föderales System
zu schaffen. Das aber würde nur funktionieren, wenn sich die Bürger
als Schicksalsgemeinschaft verstehen würden.

Wie gefährlich ist das feh"lende Schicksalsgemeinschaftsgefühl für
Europa?

Prof. Kaiser: Ich vermute, dass die Zahl der EU-Gegner steigt. Die
Verteidigung des europäischen Projektes wird nur in dem Maße
gelingen, in dem man den Bürgern vermitteln kann, warum bestimmte
Kompetenzen besser auf der europäischen Ebene angesiedelt sind. Zudem
müsste man das jetzige Maß an Integration zurückschrauben. Ein
Beispiel ist der Europäische Gerichtshof, der längst nicht mehr nur
über die europäischen Verträge wacht, sondern aggressiv Europas
Primat durchsetzen will. Warum aber soll es nicht möglich sein, dass
einzelne Staaten strategische Aktienanteile an wichtigen Unternehmen
halten, wie etwa im Falle VW? Das Eingreifen des EuGH in diesem Falle
schadete dem Integrationsprojekt. Dass das europäische Projekt
langfristig auf dem bisherigen Weg verwirklicht wird, ist eine
Hoffnung, die man aufgeben muss.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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