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Landeszeitung Lüneburg: "Den Verfassungsschutz abschaffen" / Politiloge Prof. Grottian wirft den Behörden Versagen auf ganzer Linie vor - Parteien gehören nicht beobachtet

Geschrieben am 26-01-2012

Lüneburg (ots) - Während der Verfassungsschutz Dossiers Ïber 27
Abgeordnete der Linkspartei anfertigt - offenbar auch mit
geheimdienstlichen Methoden, können Neonazis jahrelang unbehelligt
morden und Terror verbreiten. Wie effektiv arbeiten die
Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder? Der Berliner
Politologe Prof. Dr. Peter Grottian, selbst schon ins Visier der
geheimen Ermittler geraten, fordert nicht nur ein Ende der
Beobachtung, sondern sogar die Abschaffung der zuständigen Behörden.

Die Beobachtung von Abgeordneten der Linkspartei ist - auch im
Hinblick auf den Umfang - nicht neu. Verstehen Sie die Aufregung?

Prof. Dr. Peter Grottian: Die Empörung ist noch einmal gewachsen,
weil nicht nur einfache Abgeordnete betroffen sind, sondern auch der
Fraktionsvorsitzende, dessen Stellvertreter und sogar eine
Bundestagsvizepräsidentin. Natürlich muss man die Debatte über die
Linkspartei vor dem Hintergrund sehen, dass sich der
Verfassungsschutz erneut als völlig ineffizient, als weitgehend blind
und als demokratiegefährdend gezeigt hat bei dem Versuch,
rechtsextremistische Kreise hinreichend zu "diagnostizieren" - das
ist schändlich misslungen. All das zusammen wirft Fragen auf: Was
beobachten die Verfassungsschützer überhaupt? Sind sie dazu befugt?
Macht es Sinn, Erkenntnisse des Verfassungsschutzes für die
gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland noch ernstzunehmen? Das
ist die wahre Debatte. Die Zweifel am Verfassungsschutz als
Institution sind übermächtig geworden und schütteln die
Oppositionsparteien und die Regierungskoalition beinahe
gleichermaßen.

Was genau macht den "Salon-Bolschewisten" Gregor Gysi (Zitat:
Thomas Oppermann/SPD) zum Staatsfeind?

Grottian: Die Verschärfung besteht ja darin, dass inzwischen
durchgesickert ist, dass man eben nicht nur Zeitungsausschnitte über
die Mitglieder der Linkspartei gesammelt hat, sondern dass man sie
auch mit anderen, mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet hat.

Wie muss man sich das vorstellen?

Grottian: Da gibt es viele Möglichkeiten. Es kann sein, dass man
Politiker abhört oder größere Zusammenkünfte durch verdeckte
Ermittler begleitet. Dann schreiben diese Leute alles auf und geben
es in die Zentrale weiter, und je aufregender und schärfer sie etwas
beschreiben, desto gefährlicher scheint es. Ich weiß, wovon ich rede,
denn ich bin selbst fünf Jahre lang vom Verfassungsschutz beobachtet
worden. Wenn man sich dann das Ergebnis ansieht, stellt sich meistens
heraus, dass es sich um Meinungsäußerungen handelt, um
radikaldemokratische Überzeugungen und Vorschläge, die - in meinem
Fall - durch die Freiheit der Wissenschaft gedeckt sind und
keinesfalls einen "Verfassungsfeind" kennzeichnen würden. Egal, ob es
um Prominente der Linkspartei im Bundestag geht oder um einfache
Parlamentarier in einem Landtag oder Gemeinderat: Die dürfen alle
nicht überprüft werden. Gewählte Abgeordnete haben das Recht, sich
frei zu entfalten, ihre Informations- und Entscheidungsfreiheiten zu
nutzen.

Gilt das auch für NPD-Abgeordnete?

Grottian: Viele Wissenschaftler und Journalisten wissen doch viel
mehr über die NPD als der Verfassungsschutz. Man muss sich
entscheiden: Will man sie ausforschen oder verbieten? Beides zusammen
geht nicht. Wir haben genügend zivilgesellschaftliche und
wissenschaftliche Gruppen und Organisationen, die uns Material zur
Verfügung stellen, das allemal besser ist als das, was der
Verfassungsschutz dilettantisch zusammenklaubt. Auch die NPD gehört
nicht beobachtet, die Partei ist keine reale Gefahr in der
Gesellschaft. Sollen uns doch die Innenminister einmal erklären, zu
welchem Zeitpunkt gerade der Verfassungsschutz die gesamte Republik
vor irgendetwas gerettet hat. Sie werden sehr einsilbig bleiben. In
der Regel verdient die Polizei die Lorbeeren, der Verfassungsschutz
ist überflüssig wie ein Kropf. Die Gründung der
Verfassungsschutzbehörden geht auf eine Zeit zurück, in der die
vorherrschende Meinung war: "Keine Freiheit den Feinden der
Freiheit". Eine Vorstellung, die in den 50er-Jahren durch den
Antikommunismus sehr aktuell war. Aber inzwischen sind wir eine
moderne Gesellschaft, wir vertragen radikale Vorstellungen, egal von
welcher politischen Position. Wir müssen sie vertragen können, nichts
ist schlimmer als Verbote, die nicht dazu dienen, dass die
Gesellschaft sich selbst mit den jeweiligen Gruppierungen
auseinandersetzt. Solange keine Straftaten passieren, solange keine
Gewalt ausgeübt wird, hat der Verfassungsschutz nichts zu schnüffeln.
Er muss in seine Schranken gewiesen werden, und wir sollten in
Deutschland eine Debatte darüber beginnen, ob man den
Verfassungsschutz nicht auch abschaffen kann.

In jeder Partei gibt es Querdenker oder solche, die ab und an
Unsinn reden, die damit aber nicht das Profil ihrer Partei prägen.
Dennoch legt Innenminister Hans-Peter Friedrich Wert auf die
Feststellung, dass es nicht um Personen, sondern um Strukturen geht.
Wie passt das zusammen?

Grottian: Alle Parteien haben ihre "Spinner" und Menschen, die ein
bisschen unberechenbar sind. Es gehört zur Lebendigkeit einer Partei,
dass sie wie ein Hefeteig ist, dessen Ingredienzien man nicht immer
genau bestimmen kann. Eine verfassungsgemäße Partei wie die Linke hat
das Recht darauf, als Ganzes nicht bespitzelt zu werden.

Es fällt auf, dass vor allem jene verdächtig sind, die früher in
der PDS aktiv waren und aus dem Osten stammen, gleichzeitig aber den
Reformern zugerechnet werden. Pragmatiker im Osten, Sektierer im
Westen? Sind Ihnen die Beobachtungskriterien klar?

Grottian: Dass der Parteivorsitzende Klaus Ernst ausgenommen ist,
ist wohl damit zu begründen, dass er früher der WASG angehört und
einen Gewerkschaftshintergrund hat. Offenbar hat der
Verfassungsschutz gewisse Berührungs"ängs"te. Einen Konflikt mit der
IG Metall will der Verfassungsschutz offenbar vermeiden. Man geht
hier also taktisch vor. Um es ganz deutlich zu sagen: Die
Misstrauensdynamik, die ein solcher Verfassungsschutz automatisch in
Gang setzt, muss unterbrochen werden. Der frühere Berliner
Innensenator Ehrhart Körting hat mir ermöglicht, meine Akten
einzusehen und ich kann sagen: Weder die Informationen noch die
Beobachtungen stimmen, das gilt auch für die Urteilsfindung und die
Gefahrenabschätzung. Die Beobachter produzieren nur strukturellen
Blödsinn. Das kann man auch in anderen Fällen sehen. Und deshalb muss
die Konsequenz sein: Andere staatliche Stellen, - vor allem die
Polizei, - und die Zivilgesellschaft müssen diese Aufgaben
übernehmen. Verfassungsschutz und Demokratie passen nicht zusammen.
Man muss die Bürger zu mehr Demokratie ermuntern und nicht mit einer
solchen Behörde ständig verunsichern. Der Verfassungsschutz ist der
bewusste Angstmacher, der mehr Demokratie verhindert.

Wie muss diese Demokratie aussehen?

Grottian: Wir sollten doch alle froh sein, wenn mehr Bürger -
egal, ob in kleinen Gemeinden oder bei überregionalen Themen wie
Rechtsextremismus oder Energiefragen -- - Stellung nehmen und sich
für etwas einsetzen. Wir brauchen sehr engagierte, ja aufmüpfige
Bürger. Ohne zivilen Ungehorsam ist eine Demokratie heute gar nicht
mehr denkbar, weil diejenigen, die wenig Macht haben in der
Gesellschaft, ein Ventil brauchen, um ihrem Zorn Ausdruck zu
verleihen, - etwa gegenüber den Finanzmärkten oder sozialen
Ungleichgewichten.

Werden die Begriffe Rechts- und Linksextremismus in der aktuellen
Debatte hinreichend scharf definiert?

Grottian: Da geht einiges durcheinander. Auf dem rechten Auge ist
man sehr viel blinder als auf dem linken. Eine starke Demokratie
braucht aber keinen Verfassungsschutz. Bei aller Kritik an unserer
Demokratie: Sie ist so gefestigt, dass sie das ertragen kann.

Schadet oder nutzt die Debatte der Linken? Immerhin lenkt sie von
internen Querelen ab...

Grottian: Zunächst einmal ist wichtig, das die Linke ihre
Betroffenheit auch politisch offensiv zu vertreten versucht. Ihr ist
ja beigesprungen worden von Justizministerin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger und zum Teil auch von Seiten der CDU. Es
gibt schon eine Stimmung im Land, die besagt: Leidet nicht mehr unter
Hirngespinsten irgendwelcher Kommunismusverdächtigungen, sondern
guckt die reale Politik der jeweiligen Gruppen an, und unter diesem
Gesichtspunkt ist die Linke vielleicht sogar zu wenig radikal
gegenüber all den Problemen, die wir lösen müssen.

Das Gespräch führte Klaus Bohlmann



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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