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Landeszeitung Lüneburg: Ein Zeichen der Schwäche / Demokratieforscher Prof. Dr. Brettschneider sieht Volksabstimmungen skeptisch und fordert Stärkung der Parlamente

Geschrieben am 01-12-2011

Lüneburg (ots) - Mit Spannung haben nicht nur die Grünen in
Baden-Württemberg auf den Volksentscheid zum Hauptbahnhof Stuttgart
21 geschaut - und eine klare Niederlage erlitten. Ist das Bürgervotum
ein Gewinn für die Demokratie? Der Stuttgarter Politologe Prof. Dr.
Frank Brettschneider sieht in Formen der direkten Demokratie kein
Allheilmittel, fordert stattdessen eine Stärkung der repräsentativen
Demokratie.

Die Bayern wurden zum Rauchverbot gefragt, die Hamburger zur
Primarschule, die Berliner durften über das Pflichtfach Religion
abstimmen, Baden-Württemberg über Stuttgart 21, gegen den
Castor-Transport haben sich Zehntausende ungefragt zu Wort gemeldet -
mischen sich die Menschen mehr ein oder ist die mediale
Aufmerksamkeit nur größer geworden?

Prof. Dr. Frank Brettschneider: Beides ist der Fall. Einerseits
ist die Aufmerksamkeit der Medien größer geworden - vor allem, wenn
es zeitgleich zu mehreren Protestaktionen gegen unterschiedliche
Vorhaben kommt. Deshalb war im vergangenen Jahr von "Wutbürgern" die
Rede und von der "Dagegen-Republik". Aber es gibt auch eine
Veränderung in der Gesellschaft, und das hat mehrere Gründe: Zum
einen hat das punktuelle Interesse an Politik zugenommen. Wo das
eigene Umfeld betroffen ist, steigt die Bereitschaft, selbst aktiv zu
werden. Und dies wird wiederum erleichtert durch technische
Neuerungen. Die sogenannten "Sozialen Netzwerke" wie Facebook
ermöglichen es, sich viel schneller zu organisieren, als das noch vor
20 Jahren der Fall war. Eine Demonstration oder ein Treffen mit
Experten auf die Beine zu stellen, ist kein großer Aufwand mehr.

Wächst damit auch das allgemeine Interesse an Politik?

Brettschneider: Wenn man sich die Motive für die Bürgerproteste
ansieht, ist das in der Regel eine Kombination mehrerer Gründe.
Wichtig ist der sogenannte Nimby-Effekt (Not in my backyard/Nicht in
meinem Garten), auch bekannt als Sankt-Florians-Prinzip. Bürger, die
direkt von einem Bauprojekt betroffen sind, etwa von
Windkraftanlagen, Stromleitungen oder einem Autobahnabschnitt,
reagieren als erste, weil sie ihre Lebensqualität bedroht sehen. Das
gab es aber schon immer. Dann gibt es eine zweite Gruppe von Gründen,
die auf der Sachebene von Projekten angesiedelt sind. Bei Stuttgart
21 ist das etwa die Sorge um die Gefährdung des Mineralwassers.
Drittens gibt es ein wachsendes Misstrauen gegenüber traditionellen
Institutionen bis hin zur Politik auf der Bundesebene. Das heißt,
einige Menschen trauen den Parlamenten nicht mehr zu, Probleme in
ihrem Sinne zu lösen. Wichtig ist noch ein vierter Punkt, nämlich die
Art und Weise, wie sich Menschen durch Institutionen, etwa von
Projektträgern, behandelt fühlen: Oft wird man von oben herab nur als
Störenfried wahrgenommen. Wenn alle diese Aspekte zusammenkommen,
entsteht so etwas wie Stuttgart 21.

Wird das Volk künftig also häufiger gefragt, wenn es nur laut
genug ist?

Brettschneider: Dies ist wohl eine der Lehren aus Stuttgart 21.
Das war schon am Wahlabend zu spüren, als eine Debatte über die
Absenkung des ungewöhnlich hohen Quorums in Baden-Württemberg begann.
Und nicht nur in Baden-Württemberg gibt es eine Diskussion über die
Erleichterung von Bürgerbegehren, also der Möglichkeit, dass die
Menschen auch selbst Gesetzesentwürfe einbringen können. Es ist
durchaus eine gewisse Euphorie zu beobachten. Ich habe aber meine
Zweifel, ob das die Lösung vieler Probleme ist. Ich glaube, in einer
parlamentarischen Demokratie sind es die Volksvertretungen, die am
besten geeignet sind, auch einen Interessenausgleich herzustellen.
Wir haben es ja oft mit individuellen und zugleich gesellschaftlichen
Problemen zu tun, die schwer vereinbar sind: Einerseits möchte
niemand gern einen Strommasten vor seiner Tür haben, andererseits
müssen wir aber die Energiewende bewältigen. Im Übrigen beteiligt
sich an Protesten und Volksabstimmungen häufig keine repräsentativer
Querschnitt der gesamten Bevölkerung. Es sind die Menschen, die auch
ohne direktdemokratische Verfahren Einfluss haben, die organisiert
sind und sich Gehör verschaffen können. Diese Gruppe bekommt nun noch
ein Instrument mehr in die Hand. Ob das zu einem
gesamtgesellschaftlichen Interessenausgleich führt, ist fraglich.

Die Parlamente sind auch kein Abbild der gesamten Gesellschaft...

Brettschneider: Das stimmt. Aber die Parlamente sollten alle
gesellschaftlichen Interessen artikulieren. Die Forderungen nach
direkter Demokratie werden um so lauter, je schwächer die Parlamente
wahrgenommen werden.

Es ist oft zu lesen, die S21-Gegner hätten verloren, aber die
Demokratie habe gewonnen. Ist der Volksentscheid in Baden-Württemberg
wegen der hohen Hürden und im Hinblick auf den Zeitpunkt nicht eher
ein Beispiel dafür, wie man es nicht macht?

Brettschneider: Das Ergebnis des Volksentscheides ist durchaus
beeindruckend: Erstens haben sich viele Bürger beteiligt, nämlich
landesweit gut 48 Prozent, in Stuttgart sogar fast 68 Prozent. In
Stuttgart war das mehr als bei der Landtagswahl 2006. Zweitens ist
dabei ein Ergebnis herausgekommen, das glasklar ist. Und dennoch war
das auch ein holpriger Start in die direkte Demokratie.
Bürgerbeteiligung hätte viel früher stattfinden müssen. Der
Fragewortlaut war unglücklich. Und die Fronten waren bereits so
verhärtet, dass die Volksabstimmung in der Sache kaum noch zu
Meinungsänderungen geführt hat.

In Hamburg und Bayern haben sich knapp 40 Prozent der Bürger
beteiligt, in Berlin nur bei 29 Prozent. Von echter Legitimation ist
man da zum Teil weit entfernt...

Brettschneider: Richtig. Und das führt dann zu großen
Interpretation darüber, was denn diejenigen gewollt haben, die sich
nicht beteiligt haben. Deshalb gibt es ja auch das Quorum. Es soll
eben keine hoch mobilisierte Minderheit von zehn Prozent der Bürger
über die anderen 90 Prozent entscheiden können. Das Gegenargument ist
dann immer: Es kann ja jeder wählen gehen. Die Frage, wie
qualifiziert die Mehrheiten sind, bleibt stets bestehen - wie bei
manchen Parlamentswahlen mit geringer Beteiligung übrigens auch.

Wird die Zahl der Wutbürger grundsätzlich überschätzt?

Brettschneider: Ja. Und da kommen tatsächlich auch die Medien mit
ins Spiel. Die "Wutbürger" schaffen Berichterstattungsanlässe,
liefern immer neue Bilder, und sie gehen dabei immer professioneller
vor. Das machen die Gegner eines Projektes natürlich intensiver als
die Befürworter, die ja keine Notwenigkeit sehen, auf die Straße zu
gehen - erst recht nicht, wenn es parlamentarische Beschlüsse gibt.
Gefährlich ist, wenn der Öffentlichkeit der Eindruck vermittelt wird,
es sei eine große Zahl von Menschen gegen ein Vorhaben, während die
Zahl der Befürworter untergeht. Zumal diejenigen, die auf die Straße
gehen, damit meist auch einen moralischen Anspruch verbinden. In
Stuttgart war häufig die Parole "Wir sind das Volk" zu hören. Das hat
etwas Ausgrenzendes. Durch den Volksentscheid wurde deutlich, dass
die Gegner von Stuttgart 21 nicht für "das Volk" sprechen - sondern
nur für einen Teil davon.

In Umfragen hat sich die Mehrheit der Deutschen zuletzt gegen die
Atomkraft ausgesprochen. Repräsentieren die Aktivisten im Wendland -
anders als in Stuttgart - eine Mehrheit?

Brettschneider: Ja, wahrscheinlich ist das so. Umfragen weisen
darauf hin. Es gab übrigens auch Umfragen zu Stuttgart 21, die eine
Mehrheit für den neuen Bahnhof ergeben haben. Aber die wurden von den
Gegnern angezweifelt.

Kann man sagen, dass die Ergebnisse von Volksentscheiden eher
konservativ, am Status quo orientiert ausfallen und weniger den
Wandel unterstützen?

Brettschneider: Dort, war das häufig praktiziert wird, nämlich in
der Schweiz und in Kalifornien, überwiegt in der Tat das Bewahrende.
Deshalb wundere ich mich auch über die Hoffnungen derjenigen, die mit
Hilfe von Volksabstimmungen den großen Politikwechsel herbeiführen
wollen.

Dem Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung steht ein abnehmendes
Engagement der Menschen in Gewerkschaften, Kirchen und Parteien
gegenüber. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Brettschneider: Das ist wie bei den Sportvereinen: Viele Menschen
gehen inzwischen lieber ins Fitness-Studio, weil Vereine genauso wie
Verbände und Parteien ein kontinuierliches und themenübergreifendes
Engagement erfordern, zum Beispiel die Organisation von
Jahresversammlungen. Stattdessen lässt sich ein stärkeres punktuelles
Engagement beobachten, sobald eigene Interessen berührt sind. Die
traditionellen Gruppenbindungen verlieren an Bedeutung - sie werden
durch punktuelle Bindungen und Vernetzungen ersetzt.

Es gibt Forderungen nach Volksentscheiden auch auf Bundesebene Wo
sehen Sie die Grenzen und Gefahren zusätzlicher direkter Demokratie?

Brettschneider: Auf Bundesebene sehe ich mehrere Nachteile. Viele
Themen würden sich für Volksentscheide nicht eignen. Etwa wenn es um
Verkehrsinfrastruktur oder um die Energieversorgung geht. Das sind
überregionale Themen mit ganz unterschiedlichen Betroffenheiten. Wer
soll denn dann überhaupt abstimmen? Zum Beispiel darüber, ob Gorleben
ein atomares Endlager werden soll. Die Menschen im Wendland oder in
der gesamten Bundesrepublik? Auch in Baden-Württemberg war strittig,
ob man nur die Stuttgarter fragt oder alle Menschen im Land. Bei
einigen Grundsatzfragen sind Volksentscheide hingegen denkbar. Sie
sind aber bestimmt kein Allheilmittel. Meines Erachtens sollten wir
uns mehr Gedanken machen über die Stärkung der repräsentativen
Demokratie machen - als über den Ausbau der direkten Demokratie. Wir
brauchen beispielsweise lebendigere Parlamentsdebatten, die weniger
durch vorgestanzte Phrasen geprägt sind.

Das Gespräch führte Klaus Bohlmann



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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