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Landeszeitung Lüneburg: ,,Moralische Auszeit" : Interview mit dem Konfliktforscher Prof. Joachim Kersten zu den Krawallen in Großbritannien.

Geschrieben am 18-08-2011

Lüneburg (ots) - David Cameron macht "moralischen Verfall" als
Ursache der Krawalle aus. Dabei hatte der Premier aber nicht die
Skandale seiner Schicht, der Oberschicht, im Kopf. "Widerwärtig"
nennt Kriminologe Prof. Joachim Kersten von der Hochschule der
Polizei solche Schuldzuweisungen. Er macht Rassismus, Werteverfall
und falsche Polizeitaktik auf der Insel aus.

Haben Krawalle wie die in England Ventilfunktion, über die
Klassengesellschaften aufgestauten Hass entladen? Prof. Joachim
Kersten: Nur bedingt. Es kommt nicht zu einer wirklichen Entladung,
die -- wie bei einem Gewitter -- auch das Problem beseitigen würde.
Eines der Probleme, die zu den Ausschreitungen in England führten,
ist die wahrgenommene Polizeibrutalität. Wie in Frankreich, Spanien
und den USA besteht dieses Problem auch in Großbritannien und liefert
oft genug den Zündfunken für Aufruhr. Ein weiteres Problem ist die
Unzufriedenheit der Jugendlichen -- und nicht nur der diskriminierten
Minderheiten -- in vielen Ländern Europas mit den fehlenden
beruflichen Perspektiven. Mit einer Jugendarbeitslosigkeit von fast
50 Prozent und Akademikern ohne Chance auf einen Job, wie derzeit in
Spanien, besteht ein hohes Frus"trationspotenzial. Das löst sich
nicht bei Randale auf. Das dritte Problem ist die Art, in der der
Staat reagiert. Das Vorgehen in England ist nicht geeignet, die
Straße zu befrieden.

Kommt nicht als viertes Problem hinzu, dass es in England wie in
Frankreich noch eine abgehängte Schicht unter der Unterschicht gibt?
Prof. Kersten: Das ist richtig. So waren die Proteste in Spanien und
Israel friedlich und phantasievoll wie die Sit-ins zur
Flower-Power-Zeit. Wo allerdings diskriminierte Minderheiten mit
anderer Hautfarbe und fremdartigen Namen leben, haben wir einen
Nährboden für Rassismus -- wie in Frankreich und Großbritannien.

Rächt sich der gewonnene Krieg für die Briten? Nach dem Sieg war
es leichter, an überkommenen Klassenstrukturen festzuhalten? Prof.
Kersten: Möglich, wobei Frankreich nach 1945 weitaus stärker zu einem
Neuanfang gezwungen war -- und er dennoch misslang. Das Perfide am
Rassismus in den postkolonialen Gesellschaften ist, dass er subtiler
daherkommt als etwa im Südafrika der Apartheid-Ära. Gegen offenen
Rassismus können sich die Betroffenen besser wehren als gegen den
versteckten, homöopathisch daherkommenden. Wessen Name arabisch
klingt und wer aus Nordafrika stammt, hat auf dem französischen
Arbeitsmarkt gegen einen ,,Dupont" mit gleichem Schulabschluss keine
Chance. Pakis"tanischstämmige Briten mit dunklerer Hautfarbe werden
am Bahnhof häufiger kontrolliert als bleiche Briten. Da nutzt ihnen
der richtige Pass auch nicht wirklich. Die schmerzhaften, dunklen
Seiten unserer Geschichte haben hierzulande zumindest zu graduellen
Verbesserungen im Kurs gegenüber Minderheiten geführt. Postkoloniale
Gesellschaften fühlen sich dagegen gegenüber solchen Ansinnen eher
erhaben. Die Eliten dieser Länder stellen sich dieser Prob"lematik
einfach nicht.

Sie schrieben, Plünderungen geschehen nach Krawallen in einer
Partyatmosphäre, sind eine moralische Auszeit. Entsprechen sie somit
dem Karneval im Mittelalter? Prof. Kersten: Das ist heute noch so in
Köln oder in der Konstanzer Fasnacht. Es heißt ja nicht umsonst der
"schmotzige Dunschtig". Plündern ist ein Akt der Missachtung von
Obrigkeit. Zudem, weil Eigentum durch die Krawalle bereits beschädigt
ist, bei gesunkener Hemmschwelle. Deshalb beteiligen sich auch Leute
daran, die das vom sozialen Status gar nicht nötig haben, stehlen
zudem Sachen, die sie gar nicht brauchen. Der New Yorker Blackout von
1977 nach einem Stromausfall zeigte das klassische Muster des
Plünderns und Brandschatzens auf: Erst treten professionelle
Kriminelle auf die Szene, dann Jugendgangs, dann Bürger wie du und
ich.

Unter welchen Bedingungen werden aus Brandschatzungen und
Plünderungen Pog"rome? Prof. Kersten: Bei Pogromen haben wir andere
Machtverhältnisse. Es ist die Mehrheit, die ihre Wut an wehrlosen
Menschen der Minderheit auslässt. Beispiele sind die antisemitischen
Exzesse in Osteuropa im 19. Jahrhundert. Hier plünderte,
vergewaltigte und mordete der Mob. Dementgegen wurde der
millionenfachen Massenmord in Deutschland auf dem Verwaltungswege
vollzogen -- als industrialisiertes Töten.

Verbietet sich Alarmismus in Deutschland, weil es hier -- anders
als in Frankreich und England -- keine abgehängte Unterschicht noch
unterhalb der Unterschicht gibt? Prof. Kersten: Die
Migrantenunterschicht bildet in Deutschland schon noch eine Schicht
unterhalb des deutschen Prekariats. Unter ungünstigsten Bedingungen
kann ich mir auch in Einwandererwohngebieten deutscher Großstädte
ähnliche Proteste vorstellen, Ausmaße bei der Gewalttätigkeit wie in
den Pariser Banlieus oder in Tottenham halte ich aber für
unwahrscheinlich.

Was unterscheidet unsere Integrationsprobleme von denen Englands?
Prof. Kersten: Dass sie nicht postkolonialistischer Natur sind. Die
Zuwanderer kamen auf der Suche nach Arbeit, blieben hier und bauten
hier ihre Infrastruktur auf. Hier liegt noch ein Unterschied: Die
Wohngebiete ethnischer Minderheiten sind in Deutschland nicht so von
den Zentren der Städte abgehängt wie die in Großbritannien oder
Frankreich. Zudem bemüht sich die Polizei in Deutschland seit einem
knappen Jahrzehnt, in die Infrastruktur dieser Viertel
hineinzukommen. Aber nicht in Uniform oder paramilitärisch, also
quasi als Besatzungsmacht wie in Frankreich. Sondern, indem die
Beamten sich am Eingang einer Moschee die Schuhe ausziehen, indem sie
Tee trinken mit Gemeindevorstehern, indem sie versuchen, Probleme
bereits im Vorfeld zu lösen. Was in Mannheim, Berlin oder Hamburg
passiert, ist das genaue Gegenteil des "Auskärchern"-Kurses Sarkozys
und der bisherigen Antworten David Camerons. Den amerikanischen
Null-Toleranz-Verfechter William Bratton aus den USA zu engagieren,
ist ein Versuch Camerons, sich selbst als härtesten Rambo zu
stilisieren.

Großbritanniens Politiker reagierten trotz Warnungen über eine
immer größere soziale Kluft überrascht. Glaubte London der Lebenslüge
des Finanzkapitalismus vom Wohlstand für alle? Prof. Kersten:
Zunächst mal sorgten sie dafür, dass sich ihr eigener Wohlstand mehrt
-- in einer Weise, die den Begriff Beschaffungskriminalität
rechtfertigt. Es ist besonders widerwärtig, dass Menschen, die
moralisch nicht integer sind, jetzt mit dem Finger auf die
alleinerziehenden Mütter zeigen und ihnen die Schuld an den
Aufständen zuweisen. Zwar ist es richtig, dass in den Vierteln mit
vielen zerbrochenen Familien die kriminelle Schattenökonomie blüht,
aber das ist wohl am wenigsten die Schuld der Mütter.

Ahmen die Jugendlichen bei ihrem Raubzug die
Beschaffungskriminalität nach, die Broker, Banker und Politiker am
anderen Ende des Spektrums vormachen? Prof. Kersten: Ja, aber in
Trinkgelddimensionen. Die teuersten geplünderten Elektrogeräte mögen
vielleicht 1500 Pfund gekostet haben. Das sys"tematische Abgreifen
des Steuerzahlers erreicht natürlich ganz andere Dimensionen. Der
Schaden durch Weiße-Kragen-Kriminalität übersteigt den der
Straßenkriminalität immer um ein Vielfaches.

Wird eine moralische Auszeit erleichtert, wenn eine Gesellschaft
sich in Korruptionsskandalen suhlt? Prof. Kersten: Sicher. Wenn die
Politik selbst nicht über die Selbstreinigungsmechanismen verfügt,
die sie von der Unterschicht erwartet, müssen Appelle ungehört
verhallen.

Was kann derartige Gewaltausbrücke verhindern: politische
Teilhabe, Bildung, mehr Polizei oder Jobs? Prof. Kersten: Die beste
Kriminalpolitik bleibt eine gute Sozialpolitik. Gute Polizeiarbeit
heißt, tragfähige Kontakte zu den Bewohnern der Problemviertel
aufzubauen, um bereits bei lediglich virulenter Kriminalität
gegensteuern zu können. Nur dann kann man bloße Strafandrohungen mit
phantasievolleren Maßnahmen ersetzen. Dazu müssten verantwortliche
Innenminister aber ihren Horizont über die bloße
betriebswirtschaftliche Betrachtung von Polizeiarbeit hinaus
erweitern. Der Ruf nach Bildung bleibt soziologisches Gefasel, wenn
man nicht anerkennt, dass die meisten dieser Kinder gar nicht mehr
beschulbar sind. Solange sie ihren sozialen Status eher über Drogen-
und Gewaltkriminalität sichern können als über einen guten
Schulabschluss, kann es nicht gelingen, sie für den Blick in Bücher
zu begeis"tern.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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