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Landeszeitung Lüneburg: ,,Große Gefahr durch Abklingbecken" - Interview mit dem Reaktor-Experten Stephan Kurth vom Öko-Institut

Geschrieben am 18-03-2011

Lüneburg (ots) - Noch ist unklar, wie sich die atomare Katastrophe
in Japan weiterentwickelt. Derzeit kämpfen 50 Arbeiter des
Atomkraftwerkes Fukushima I gegen Kernschmelzen in den sechs
Reaktoren. Dabei werden Hubschrauber eingesetzt, die Kühlmittel auf
den havarierten Reaktoren abladen. Zudem sind Wasserwerfer im
Einsatz. Große Hoffnungen richten sich auf neue Stromleitungen zum
Katastrophen-AKW. Doch viele Experten bezweifeln, dass weitere
Kernschmelzen verhindert werden können. Sorgen bereitet vor allem
Reaktor 4, weil dort außerhalb des Schutzmantels alte Brennelemente
in einem Abklingbecken lagern. ,,So ein Abklingbecken birgt, vor
allem, weil nicht nur der aktuelle Kern, sondern noch weitere ältere
Kerne dort lagern, ein noch größeres Risiko", sagt Stephan Kurth,
Experte für Nukleartechnik und Anlagensicherheit vom Öko-Institut, im
Gespräch mit unserer Zeitung.

Die Reaktoren des Kernkraftwerkes Fukushima 1 sind quasi sich
selbst überlassen. Die verbliebenen 50 Mitarbeiter müssen wegen der
hohen Strahlenbelastung immer wieder ihre Arbeiten stoppen. Droht nun
ein sechsfaches Tschernobyl?

Stephan Kurth: Tschernobyl war gekennzeichnet durch einen Brand in
der Reaktoranlage. Das führte dazu, dass große Teile des Kerns
freigesetzt und in großen Höhen verteilt und verbreitet wurden. Im
Atomkraftwerk Fukushima ist noch unklar, wie groß die Beschädigungen
bereits sind. Anhand der teilweise hohen Strahlenwerte kann man aber
ableiten, dass die Barrieren, die eigentlich Radioaktivität
zurückhalten sollten, nicht mehr vollständig vorhanden sind. Wie weit
eine Kernschmelze schon fortgeschritten ist oder ob noch irgendetwas
zum Stillstand kommt, kann man derzeit schwer beurteilen.

Bei einer Kernschmelze mit Brand wäre es wie in Tschernobyl. Was
wäre denn bei einer Kernschmelze ohne Brand?

Kurth: Entscheidend wird erst einmal sein, welche Anteile des
Kerns freigesetzt und in der Umgebung verteilt werden. Und man muss
abwarten, ob noch Explosionen und weitere Brände hinzukommen.

In Reaktor 4 befindet sich das Abkühlbecken außerhalb des
Sicherheitsbehälters. Macht das die Lage besonders prekär?

Kurth: Ja. In Reaktor 4 hat man abgebrannte Kerne in ein
Abklingbecken ausgelagert, das sich außerhalb des inneren Teils der
Reaktoranlage befindet. So ein Abklingbecken birgt, vor allem, weil
nicht nur der aktuelle Kern, sondern noch weitere ältere Kerne dort
lagern, ein noch größeres Risiko. Denn auch solche Kerne müssen
dauerhaft gekühlt werden. In Reaktor 4 ist aber auch die Kühlung des
Abklingbeckens ausgefallen, das Becken ist beschädigt und läuft leer.
Die Brennelemente überhitzen sich, die Strahlung in der Umgebung
steigt an, da es keine schützende Hülle über dem Becken mehr gibt,
die die freigesetzten radioaktiven Stoffe zurückhält.

Reicht die derzeitige Evakuierungszone von 20 Kilometern rund um
Fukushima 1 aus?

Kurth: Das hängt von vielen Faktoren ab. Wie entwickeln sich die
Freisetzungen, wie entwickelt sich das Wetter? Derzeit kann ich nicht
abschätzen, ob die Evakuierungszone ausgeweitet werden sollte.

Müssten die havarierten Reaktoren ähnlich wie in Tschernobyl eine
Art Sarkophag, an dem damals Hunderttausende Liquidatoren gebaut
haben, erhalten?

Kurth: Im Moment wird in Fukushima noch versucht, mit allem, was
einem einfällt, Kernschmelzen zu verhindern oder zu begrenzen.
Nachher werden die entscheidenden Fragen sein, wie weit die Schmelze
fortgeschritten ist, ob man alles an Ort und Stelle belassen und eine
Art Sarkophag wie in Tschernobyl bauen muss oder ob man besonders
stark strahlende Teile später abtransportieren und woanders geschützt
lagern kann.

Was passiert denn bei einer Kernschmelze mit dem Reaktorbehälter?
Wie weit könnten denn die Brennelemente in den Boden eindringen?

Kurth: Wenn bestimmte Temperaturen erreicht werden, würde der
Stahlbehälter nicht mehr standhalten können. Danach könnte es auch
Reaktionen mit dem Betonfundament oder beim Kontakt mit Wasser geben
und auch weitere Explosionen oder Brände sind möglich. Aber es gibt
-- glücklicherweise -- noch keine Erfahrungen mit einer solchen
Kernschmelze, die eine sichere Vorhersage ermöglichen. Allerdings
wäre der Weg des spaltbaren Materials nach unten für die direkte
Umgebung erst einmal der weniger schlimme.

Die Schwachstelle eines jeden Reaktors ist die Stromversorgung.
Reichen die bisherigen Notstromversorgungs-Einrichtungen in
Deutschland aus, die auf einen 72-stündigen Stromausfall ausgelegt
sind?

Kurth: Was Sie ansprechen, sind die Dieselvorräte der
Notstromaggregate. Diese müssen bei einem Notfall innerhalb von 72
Stunden aufgefüllt werden. In Japan wurden die Notstromaggregate und
Treibstoffbehälter wahrscheinlich durch den Tsunami beschädigt oder
zerstört. In einem solchen Fall nützen auch eine mehrfach vorhandene
Notstromversorgung und große Dieselvorräte natürlich nichts mehr.

Könnten Terroristen eine solche Schwachstelle nutzen?

Kurth: Ja. Die Stromversorgung ist und bleibt ein wunder Punkt
aller Kernkraftwerke. Ein Stromausfall betrifft die gesamte Anlage.
Auch in einem abgeschalteten Kernkraftwerk wird ständig Strom zur
Kühlung der Anlage benötigt. Wenn -- wie jetzt in Japan -- große
Teile des Stromnetzes über einen längeren Zeitraum ausfallen, muss
man auch die Frage stellen, wie man hier damit umgehen würde, wenn
Strom längere Zeit ausfallen sollte.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hält an der Kernenergie fest
und betont, französische Reaktoren seien die sichersten, weil sie
eine doppelte Schutzhülle haben. Würde diese doppelte Kernhülle oder
Containments einer Kernschmelze standhalten?

Kurth: Ich weiß nicht, von welchen Anlagen Herr Sarkozy spricht.
Auch die aktuellen französischen Anlagen haben keine Schutzhülle, die
einer Kernschmelze standhält. Die neuesten Anlagen in Frankreich sind
etwa auf dem technischen Stand wie die neuesten Anlagen in
Deutschland. Sie haben im Inneren einen Sicherheitsbehälter, der aus
Stahl gefertigt ist und gas- und bis zu einer gewissen Höhe auch
druckdicht ist. Um diesen Stahlbehälter herum gibt es eine
Betonhülle, die vor allem vor ,,Angriffen" von außen wie
Flugzeugabstürze schützen soll. Echte doppelte Schutzhüllen, mit
denen auch ein verbesserter Schutz bei Kernschmelzunfällen erreicht
werden soll, sind erstmals für den sogenannten Europäischen
Druckwasserreaktor, der zur Zeit in Finnland und Frankreich gebaut
wird, geplant. Allerdings fehlen auch hier Erfahrungswerte und damit
auch die letzte Sicherheit, ob alle tatsächlich auftretenden
Belas"tungen bei einem Kernschmelzunfall beherrschbar sind. Insofern
relativiert sich die Aussage Sarkozys.

Welche Lehren können, welche müssen gezogen werden aus der
Katastrophe in Japan?

Kurth: Wir sollten jetzt nicht diskutieren, ob Tsunamis oder
Erdbeben dieser Stärke in Deutschland auftreten können. Aber wir
müssen darüber nachdenken, wie weit man gegangen ist bei den Annahmen
über die Stärke von Erdbeben an deutschen Kernkraftwerkstandorten. In
Japan hätte bis vor wenigen Tagen niemand mit einem derart starken
Beben gerechnet. Wir müssen uns in Deutschland auch fragen, wie weit
wir allgemein mit der Auslegung gegangen sind und wie die Sicherheit
der Anlage definiert ist: Wie viel darf ausfallen, wie viel darf drum
herum zerstört werden, damit ein Reaktor noch beherrschbar bleibt?
Wenn wir in Deutschland großflächige Stromausfälle hätten und
gleichzeitig durch Fehler oder Verkettung unglücklicher Umstände
Probleme mit Notstromaggregaten hätten, kämen wir in die gleiche
Situation wie jetzt Japan.

Erwarten Sie einen Umdenkprozess in Kernkraft-Nationen wie
Frankreich, USA, oder Russland erst dann, wenn dort radioaktiver
Fallout aus Fukushima in größeren Mengen niedergeht?

Kurth: Die Lerneffekte sind leider am größten, wenn man selbst
betroffen ist. Ansonsten gibt es die Abwehrhaltung ,,Augen zu und
durch" oder man reagiert -- wie in Deutschland --- vor allem auf
Emotionen und zieht deswegen erste Maßnahmen in Erwägung. Frankreich
hat zudem finanzielle Interessen und sieht Atomkraftwerke als
Exportschlager. Allgemein gilt aber: Vor allem halten diejenigen
Länder an der Kernenergie fest, die noch nicht den Ansatz zu einer
anderen Energieversorgung gemacht oder noch kein Konzept für die
Umstellung auf erneuerbare Energien haben. Da sind wir in Deutschland
schon sehr viel weiter.

Das Interview führte Werner Kolbe



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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