(Registrieren)

BERLINER MORGENPOST: Protestfolklore schlägt Kompromisskultur Hajo Schumacher über den Konflikt über die Räumung des besetzten Hauses in der Liebigstraße 14

Geschrieben am 02-02-2011

Berlin (ots) - Vor 20 Jahren begann in Hamburg der Kampf um die
Häuser an der Hafenstraße. Nach mehreren Jahren erbitterten
Schlachten auf allen Ebenen gehören die Altbauten am Hafenrand
inzwischen einer Genossenschaft, sind saniert und dienen Touristen
als schicke Fotogelegenheit. Früher, in den heißen Tagen, fuhren
Busgruppen von auswärts in angemessenem Abstand vorbei, um mit
wohligem Grusel Autonome zu gucken. In Berlin war die Lage zwar etwas
unübersichtlicher. Aber im Rückblick auf die Historie des deutschen
Häuserkampfs lässt sich zumindest eines festhalten: Am Ende steht ein
Kompromiss, sofern alle Beteiligten wollen. Falls nicht, wird erst
prozessiert und schließlich geräumt. Dieses Muster gilt seit einem
Vierteljahrhundert unverändert. Der von allen Seiten mit großem
Pathos vorgetragene Zoff um "Liebig 14" bedeutet für alle Beteiligten
einen Rückfall in die Urzeiten des deutschen Häuserkampfes. Während
am südöstlichen Rand des Mittelmeeres Millionen Menschen um Großes
kämpfen, wird in Berlin eine Gala der Albernheiten gegeben. Da fahren
Wasserwerfer vor einer Ruine auf, in deren Innern eine Handvoll
Unentwegter wohl eine Art Dschungelprüfung absolvieren wollen. Fehlt
nur noch, dass die Besetzer die "Zusammenlegung aller Gefangenen"
fordern und sich gegenseitig mit Victory-V auf einer Trage
fotografieren. Auf Twitter wird zweiminütlich live zur Lage
berichtet, als ging es um irgendwas. Aber das ist Unsinn: Verglichen
mit den wirklichen Problemen überall auf der Welt, geht es in der
Liebigstraße 14 um nichts als Folklore. Köln hat den Karneval,
München das Oktoberfest und Berlin gelegentliches Reality-Rambazamba.
Was mit der Volkskampfrhetorik von Freiheit und Menschenrechten
daherkommt, ist nur mehr ein leeres Ritual, ein Nachspielen von den
alten Filmen, ein nerviges Gerangel, das so viel intellektuelle
Spannung birgt wie die allsamstägliche Hatz zwischen Polizei und
Hooligans. Dass die Staatsgewalt das Spiel mit nicht weniger Pathos
und größtmöglicher Uneleganz mitspielt, macht die Sache nicht besser.
Aufrichtiges Mitleid für alle Polizisten, die sich unter ihren Helmen
fragen mögen, ob der Aufmarsch angemessen ist für eine Handvoll
egomanischer Jugendlicher, deren Widerstand mit ein paar Kästen Bier
wohl sehr viel einfacher und billiger zu brechen gewesen wäre. Um die
Gesellschaft gehe es ihnen, haben die Besetzer erklärt. Doch der
Gesellschaft ist an diesen selbst ernannten Revolutionsführern wenig
gelegen, wie massenhaft ausbleibende Solidaritätsbekundungen
beweisen. Natürlich sind Mieterhöhungen und Gentrifizierung ernste
Probleme, zumal in einer Stadt, deren globale Attraktivität sehr viel
mit Bezahlbarkeit zu tun hat. Aber "Liebig 14" ist kein
Protestprojekt, das irgendeine originelle Form des Widerstands,
irgendeine gesellschaftliche Relevanz oder politische Antwort auf die
realen Probleme hätte. "Liebig 14" ist vielmehr ein Klub für
Abenteuer-Touristen, die auch mal außerhalb der Saison das
1.-Mai-Spiel spielen wollen. Demokratischer Fortschritt, und den kann
man ja auch mal im Blick haben, hat immer mit Kompromissen zu tun,
mit einem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit und einer gewissen
Ernsthaftigkeit in Zielen und Argumenten. Der Kampf um die
Liebigstraße 14 ist ein Rückschritt.



Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST

Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

313733

weitere Artikel:
  • Ostsee-Zeitung: OSTSEE-ZEITUNG Rostock zu Fluggastdaten Rostock (ots) - Die Gier nach immer neuen Daten ist offenbar unersättlich. Jetzt will die EU sämtliche Fluggastdaten - auch von innereuropäischen Flügen - sammeln. Natürlich nur für einen guten Zweck: die Terrorabwehr. Das ganze Vorhaben ist jedoch nichts anderes als eine Vorratsdatenspeicherung. Es könnte ja sein, dass man einem Verdächtigen auf die Schliche kommt. Das reicht, jedenfalls in Deutschland, aber längst nicht als ziemlich abgehobene Begründung aus, um so einen tiefgehenen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle mehr...

  • Mitteldeutsche Zeitung: zu Fluggastdaten Halle (ots) - Steht der Aufwand in irgendeinem vertretbaren Zusammenhang mit dem Zugewinn an Sicherheit? Schließlich werden die Passagiere von Flügen aus der EU hinaus und hinein am Boden kontrolliert. Die Lehren aus den Terroranschlägen in den USA lauten aber nicht, dass man zu wenig Informationen hatte, sondern dass man das, was man wusste, nicht richtig aufbereitete, sortierte und dann die notwendigen Schlüsse zog. Es ist nicht erkennbar, dass Europa mit seiner neuen Sammelwut etwas besser machen wird. Pressekontakt: Mitteldeutsche mehr...

  • Stuttgarter Nachrichten: Frauenquote Stuttgart (ots) - Die Kanzlerin hat die Zwangsquote begraben. Vorerst. Das ist vernünftig. Denn existenzielle Emanzipationsprobleme gibt es weniger auf Vorstandsfluren, sondern mehr am Fließband und im Haushalt. Und mal ehrlich: Ist dort politischer Druck nicht weit mehr gefragt? Pressekontakt: Stuttgarter Nachrichten Chef vom Dienst Joachim Volk Telefon: 0711 / 7205 - 7110 cvd@stn.zgs.de mehr...

  • Südwest Presse: Kommentar zur Burka Ulm (ots) - Die Frankfurter Muslima überspannt den Bogen. Ihre Vorstellung, vollverschleiert ratsuchenden Bürgern gegenüberzutreten, ist nicht nur absurd, sie verstößt auch gegen den Geist einer westlichen Demokratie. Zum Respekt gegenüber dem Souverän, dem Volk, gehört das Recht der Bürger, den Vertretern des Staates ins Auge zu schauen. Ein verschleiertes Gesicht steht für ein Staatsverständnis, das es hierzulande nicht gibt. Und es untergräbt das Vertrauen zwischen Amt und Mensch. Das Bundesland Hessen hat auf die Provokation mehr...

  • WAZ: Warnung für Rot-Grün. Kommentar von Theo Schumacher Essen (ots) - Der grimmige Auftritt der Ministerpräsidentin im Landtag lässt tief blicken. Der Konflikt um den Haushalt hat Wunden in der Koalition geschlagen. Hannelore Kraft agierte so angriffslustig wie eine Oppositionsführerin, doch zu einem Befreiungsschlag reichte ihre Rede so wenig wie die Erklärungsversuche ihres Finanzministers. Norbert Walter-Borjans hat sich, legt man nur das Maß des Haushaltsrechts an, womöglich korrekt verhalten. Politisch konnte er allerdings kaum ungeschickter agieren, als er dem Parlament die mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht