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General-Anzeiger: Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof im Interview: "Jeder Euro muss das Gleiche wert sein" (Wortlaut)

Geschrieben am 24-11-2010

Bonn (ots) - Vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder
verspottet, von seiner Nachfolgerin Angela Merkel fallen gelassen:
Der renommierte Verfassungs- und Steuerrechtler Paul Kirchhof stand
2005 im Kompetenzteam der Union für die Bundestagswahl. Schon damals
forderte der ehemalige Bundesverfassungsrichter einen Umbau des
Steuersystems. Mit Kirchhof sprach Ulrich Lüke.

Herr Professor Kirchhof, wie fühlt man sich heute, fünf Jahre,
nachdem Sie die SPD geringschätzig als "dieser Professor aus
Heidelberg" tituliert hat? Kirchhof: Ich bin stolz, ein Professor aus
Heidelberg zu sein. Professor ist ein Ehrentitel, Heidelberg ist eine
erstklassige Adresse.

Haben Sie die Kandidatur damals als Finanzminister einer
bürgerlichen Koalition bereut? Kirchhof: Nein. Ich möchte keinen Tag
missen, aber auch keinen hinzufügen.

Der Staat macht als Tribut an die globale Finanzkrise mehr
Schulden denn je. Kann man da noch Steuersenkungen fordern? Kirchhof:
Wir müssen zunächst einmal die Steuern vereinfachen. Der Bürger will
den Maßstab seiner Steuerlast verstehen und seine Steuererklärung
verantwortlich unterschreiben. Sodann muss er wissen: Wenn ich vom
Staat etwas haben will, Sicherheit, Straßen, Schulen, dann muss ich
dafür bezahlen. Der Staat kann als Wohltäter nur geben, was er vorher
als Übeltäter genommen hat. Diese Klarstellung ist insbesondere in
einem hoch verschuldeten Staat notwendig, der sich zu viele Aufgaben
aufbürdet.

Was so nicht bleiben kann...

Kirchhof: Das wäre dann der zweite Schritt. Wir müssen die
Staatsverschuldung kategorisch zurückführen: Keine Neuverschuldung,
sondern Schuldenabbau. Wir leben im Moment zu Lasten der Kinder über
unsere Verhältnisse. Wenn wir ihnen diesen ungeheuren Schuldenberg
aufladen, werden diese Kinder den Generationenvertrag kündigen.

Ist ein niedriges, einfaches und gerechtes Steuersystem nicht ein
Widerspruch an sich? Kirchhof: Nein. Wenn alle Ausnahmetatbestände
aus dem Steuerrecht herausgenommen werden, haben wir mehr
Steuergleichheit, eine Ausweitung der Steuerzahler, ein höheres
Steueraufkommen. Das geben wir durch Absenkung der Steuersätze und
einen Freibetrag von 10 000 Euro für jeden Menschen zurück -
bei einem Einheitssatz von 25 Prozent.

Den gibt es doch schon für Kapitaleinkünfte... Kirchhof: Richtig.
Und deshalb stellt sich jetzt die Gerechtigkeitsfrage. Denn dieses
Gefälle - ein Viertel Steuern auf Kapital, fast bis zur Hälfte
Steuern auf Arbeit - ist nicht die Gerechtigkeit, die wir uns in
Deutschland wünschen. Dieses System kann so nicht weitergelten. Und
deshalb gibt es jetzt die große Chance zur fundamentalen Reform.

Sie haben die Deutschen ein Volk von Steuerakrobaten genannt, weil
sich gerade Wohlhabende arm rechnen können. Ist das Teil der
Gerechtigkeitsfrage? Kirchhof: Das ist der erste und der wichtigste
Teil. Jeder Euro muss das Gleiche wert sein, ob er aus Land- und
Forstwirtschaft, aus gewerblicher, aus freiberuflicher Tätigkeit oder
aus unselbständiger Arbeit kommt: Euro ist Euro. Das ist das Ideal.
Die Wirklichkeit ist eine ganz andere: Es gibt zahllose
Ausnahmetatbestände. Sie können steuerbegünstigt in den Film, in die
Schifffahrt, in Denkmäler, in die Solarindustrie, ja sogar in
Schrottimmobilien investieren. Das Gesetz schickt Menschen in die
ökonomische Torheit. Das kann so nicht bleiben.

Ist Nicolas Sarkozy aus Ihrer Sicht auch ein Tor? Der französische
Präsident hat gerade das deutsche Steuersystem im Blick auf die
Unternehmen als Vorbild bezeichnet. Kirchhof: Das ist eine
erstaunliche Äußerung. Ich habe ein Problem, wenn ich meinen
Studenten dieses System mit all seinen Ausnahmen, Torheiten,
Ungleichheiten - wenn ich ihnen dieses Unrecht vermitteln soll. Das
kann ich eigentlich nicht verantworten.

Die Grünen plädieren für eine massive Umverteilung auch mit Hilfe
des Steuerrechts. Sie auch? Kirchhof: Wenn ich eine Steuer von 25
Prozent habe, dann zahlt der Chef, der eine Million verdient hat,
250 000 Euro in die Staatskasse. Seine Sekretärin, die
20 000 verdient, zahlt rechnerisch 5 000, wegen der
Freibeträge aber nur 1 250 Euro. Das ist gerecht: Wer viel
verdient, zahlt viel; wer maßvoll verdient, maßvoll. Wenn das so
gemeint ist, ist das richtig. Wenn damit gemeint ist, der eine dürfe
gar nicht eine Million verdienen, ist das ein Missverständnis. Denn
Freiheit heißt, sich unterscheiden zu dürfen. Das ist ein
Grundgedanke unserer Verfassung. Diese Verschiedenheit soll es geben.
Wer das nicht erträgt, erträgt die Freiheit nicht.

Das kann aber höchst ungerecht sein.

Kirchhof: Van Gogh, für dessen Bilder es heute fast eine Million
gibt, ist beinahe in Armut gestorben, weil seine Zeit seine Leistung
nicht erkannt hat. Robert Schumann, der noch heute die Konzertsäle
füllt, ist in Armut gestorben, weil er seiner Zeit voraus war. Doch
welches Recht hätte die Menschen damals zwingen sollen, diese
Leistungen zu honorieren?

Tut der Staat - Stichwort Schuldenbremse - genug gegen neue
Schulden? Kirchhof: Die Schuldengrenze im Grundgesetz ist ein großer
Fortschritt. Das bisherige System, sich so hoch verschulden zu
dürfen, wie man investiert, ist kleinmütig gewesen. Im Privatleben
käme niemand auf die Idee, von seinen Kindern 200 000 Euro für
ein Haus zu verlangen, das diese später einmal erben. Die andere
Begründung für Verschuldung war die Konjunktursteuerung.
Mittelfristig hat diese Konjunktursteuerung unsere Konjunktur wegen
der entstehenden Schulden niedergedrückt. Der Bund zahlt in diesem
Jahr 41 Milliarden Euro Zinsen. Tendenz steigend. Wie könnte man mit
diesem Geld Infrastruktur und Konjunktur beleben! Wir müssen die
Staatsverschuldung als Normalfinanzierung ächten. Diese Verschuldung
im Übermaß ist unseren Kindern gegenüber nicht anständig.

Hat die Krise die Moral in der Wirtschaft - Stichwort Bankerboni -
verstärkt? Kirchhof: Das Ideal des ehrbaren Kaufmanns, das Ideal des
lauteren Wettbewerbs hat in der Finanzkrise kein Maß gesetzt.
Grenzenlose Freiheit ist Willkür. Wenn jemand für schlechte
Leistungen auch noch Boni verlangt, ist das nicht in Ordnung. Wenn
jemand bewusst Kredite versichert, die nicht bedient werden können,
ist das Betrug. Wie beim Autofahrer, der bewusst einen Unfall baut
und dadurch die Versicherung betrügt.

Gibt es nennenswerte Gegenleistungen der Wirtschaft an den Staat?
Kirchhof: Wenn der Staat einen Rettungsschirm aufspannt, stellt er
die großen Unternehmen ins Trockene, die kleinen lässt er im Regen
stehen und die Steuerzahler stellt er in die Traufe. Das System
können wir so nicht fortführen. Wir hatten nach 1945 eine große Krise
in Deutschland, politisch, wirtschaftlich, moralisch. Jeder war in
Freiheit auf sich zurückgeworfen. Rettungsschirme gab es nicht.
Ergebnis: Eine gefestigte Demokratie, ein Wirtschaftswunder.
Vergleichen Sie das mit der Kleinmütigkeit, mit der die heutige Krise
gemanagt wird. Wir müssen zurück zu der freiheitlichen Idee, dass
jeder auf eigene Rechnung handelt. Auf eigene Chance, aber auch auf
eigenes Risiko.

Wie souverän sind die Nationalstaaten eigentlich in so einer
Finanzkrise noch? Kirchhof: Die Staaten haben durch ihre große
Verschuldung ein Stück an Souveränität verloren. Je höher die
Verschuldung, desto weniger souverän der Staat. Verschuldung
verschiebt Staatsmacht auf den Finanzmarkt.

Eine zugegeben pauschale Frage: Wir haben Europa jahrzehntelang
gelobt. Ist die EU noch auf dem richtigen Weg? Kirchhof: Das
Faszinosum Europa wird niemand, der es erlebt hat, in Frage stellen.
Wir müssen aber handwerklich sorgfältig arbeiten, dass sich die EU
und die Währungsunion nicht selbst gefährden. Wir organisieren dort
die Unverbindlichkeit verbindlichen Rechts. Das ist bedrohlich. Es
bedroht das Recht, es bedroht den Euro. Stellen wir uns vor, wir
hätten die Kraft gehabt, die Beachtung verbindlichen Europarechts in
der Verschuldensfrage zu garantieren. Keiner hätte die
Neuverschuldung über drei Prozent BIP gesteigert. Dann hätten wir
keine Finanzkrise. Wir wären der stärkste Partner im Weltmarkt.

Ihre Therapie? Kirchhof: Europa hat heute sehr viele Kompetenzen,
es neigt zu einer Überproduktion von Recht, es pflegt eine gewisse
Behäbigkeit der Bürokratie. Ein guter Europäer achtet heute darauf,
dass Europa ein schlanker, ranker David bleibt. Nicht ein in die
Jahre gekommener Herr mit Übergewicht. Und es ist gut, wenn unser
Bundesverfassungsgericht, dieser Reparaturbetrieb unserer Demokratie,
da besonders wachsam ist.

Stichwort Demokratie: Zeigt Stuttgart 21, dass wir mehr direkte
Demokratie brauchen? Kirchhof: Nein, wir müssen darüber nachdenken,
ob ein solches Planungsverfahren 15 Jahre dauern darf. Die Akteure
von damals gibt es heute ja gar nicht mehr. In drei Jahren muss eine
solche Planung abgeschlossen sein. Aber bei Stuttgart 21 ist
entscheidend: Nur der Bund hat hier zu entscheiden. Das Land
Baden-Württemberg, die dortigen Bürger können das Projekt gar nicht
stoppen, auch wenn Politik und Medien jetzt diesen Eindruck erwecken.

Was kann in Stuttgart denn noch entschieden werden? Kirchhof: Über
das Bahnprojekt entscheidet der Bund. Insoweit wäre noch nicht einmal
eine Volksbefragung zulässig, geschweige denn ein Volksentscheid.

Also in Stuttgart geht gar nichts? Kirchhof: Doch: Wenn der
Bahnhof unter der Erde ist, können die Stuttgarter mitentscheiden,
was aus den neuen Freiflächen wird: Da kann man einen Park schaffen
oder sprudelnde Quellen, Kindergärten oder auch Hochhäuser, wie es
der Bürger will.

Könnte es sein, dass Stuttgart 21 auch ein Protest ist gegen
schwindenden Einfluss der Bürger etwa bei Wahlen? Kirchhof: Das
könnte sein. Erinnern wir uns beim Thema Steuern an die Verheißungen
vor der Wahl. Davon ist bis heute kaum etwas umgesetzt. Das muss den
Bürger enttäuschen. Er geht dann nicht mehr zur Wahl, sondern in die
innere Emigration.

Es hängt manchmal auch an Koalitionspartnern, dass Versprechen
nicht wahr werden... Kirchhof: Deshalb müssen wir unser Wahlrecht
reformieren. Die Parteien müssen vor der Wahl verpflichtend sagen,
mit wem sie koalieren werden. Dann würden wir mit der
Mehrheitskoalition auch die Regierung unmittelbar wählen, nicht nur
zu Koalitionsverhandlungen ermächtigen, so dass man vielleicht erst
drei Wochen nach der Wahl weiß, wer wirklich gewonnen hat.

Das geht ohne Verfassungsänderung aber gar nicht. Kirchhof:
Natürlich nicht. Aber man darf darüber nachdenken, wie dieses
demokratische System Grundgesetz, das ein Glücksfall ist, aber nach
60 Jahren hier und da etwas müde geworden ist, verbessert werden
kann.

Originaltext: General-Anzeiger
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/80218
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_80218.rss2

Pressekontakt:
General-Anzeiger
Kai Pfundt
Telefon: 0228 / 66 88 423
k.pfundt@ga-bonn.de


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