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Landeszeitung Lüneburg: Ex-Ministerpräsident Reinhard Höppner zu Minderheitsregierungen in den Ländern: "Tolerierung ist keine Option im Bund"

Geschrieben am 18-11-2010

Lüneburg (ots) - Kann die SPD auch im Westen mit der Linken oder
nicht? Was Dr. Reinhard Höpppner vor 16 Jahren in Sachsen-Anhalt
gelang, versucht Hannelore Kraft nun in Nordrhein-Westfalen zu
wiederholen: eine rot-grüne Minderheitsregierung, die von der Linken
-- damals PDS -- toleriert wird. Eine "Basta"-Haltung verbietet sich
in einer derartigen Konstellation, persönliches Vertrauen sei extrem
wichtig. Als Option für den Bund tauge das "Magdeburger Modell" noch
nicht, meint Dr. Höppner. Erst müsse die Linke illusorische
Forderungen über Bord werfen.

21 Jahre nach dem Mauerfall, was wissen Schüler, die die DDR nicht
mehr erlebt haben, noch über diesen Teil der deutschen Geschichte?

Dr. Reinhard Höppner: In der Regel wissen sie relativ wenig.
Merkwürdigerweise erzählen auch die Eltern wenig davon, im Osten noch
weniger als im Westen. Bei meinen Veranstaltungen zeigen sich die
Schüler sehr interessiert, stellen ganz unbefangen ihre Fragen. Doch
es ist für sie nicht leicht, die Erzählungen der Zeitzeugen
einzuordnen. Die Erinnerungen sind sehr unterschiedlich. Auch die
Einschätzungen darüber, was die DDR denn eigentlich gewesen ist,
klaffen weit auseinander.

Erkennen Sie schon Wandlungen in der Wahrnehmung der DDR durch
Ostdeutsche?

Dr. Höppner: Sicher sind die Bürger angekommen in den neuen
Realitäten. Das Bild der DDR hat sich verwandelt. Zum einen, weil die
Vergangenheit einiges vergoldet, man vergisst Schattenseiten, so ist
der Mensch nun mal. Was ich persönlich mit anderen bedauere ist, dass
wir es im Vereinigungsprozess nicht geschafft haben, voneinander zu
lernen. Es gab Erfahrungen, die wir in der DDR gemacht haben, die
durchaus produktiv in den Vereinigungsprozess hätten eingebracht
werden können. Als ein Beispiel sei das Abitur nach zwölf Jahren
genannt. Das wurde im Vereinigungsprozess als "Schmalspur-Abi"
verunglimpft -- und wird jetzt doch in einigen westlichen
Bundesländern angestrebt.

Was ist das größte Wunder des Einigungsprozesses -- was der größte
Fehler?

Dr. Höppner: Für mich war das größte Wunder, dass wir nach all dem
Leid, das Deutsche im vergangenen Jahrhundert über ihre Nachbarn
gebracht haben, Einheit und Aussöhnung mit den Nachbarn so gut
verknüpfen konnten. Zentraler Fehler war, dass wir nicht aufeinander
zugegangen sind, sondern die Grundeinstellung vorherrschte, der
Westen müsse sich gar nicht verändern und der Osten wie ein braver
Schüler lernen. Das führte dann zu den Spannungen zwischen Wessis und
Ossis. Das Ausmaß der Umwälzung im Osten hat dazu geführt, dass nun
viele dort der Veränderungen müde sind. Angesichts neuer
Herausforderungen kann uns das noch Probleme bereiten.

Bedauern Sie, dass die reformbereiten Kräfte in der DDR angesichts
der Wucht der Revolution keine Chance hatten, ihre Vorstellungen
durchzusetzen?

Dr. Höppner: Wir haben damals nicht wahrgenommen, dass es für eine
Reformierung der DDR nicht wirklich eine Chance gegeben hat. Das
Staatsunternehmen DDR war in Konkurs ohne Chance, längerfristig
lebensfähig zu sein. Insofern ist es eine akademische Frage, ob man
das bedauert oder nicht. Am 9. November war ein Staudamm gebrochen.
Und wir mussten sehen, wie wir die überschwemmten Landschaften wieder
urbar machen konnten. Dennoch haben die revolutionären Kräfte am
Wandel mitgearbeitet und dafür gesorgt, dass er sich friedlich
vollzog.

Sie haben als Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt zwar keinen
Staudamm zerbrochen aber ein Ventil geöffnet. Wieso tut sich die SPD
im Westen 16 Jahre nach ihrer von der PDS tolerierten
Minderheitsregierung mit der Linken noch so schwer?

Dr. Höppner: Man muss nüchtern sehen, dass mit der Gründung der
Linken die SPD gespalten wurde. Viele Sozialdemokraten bildeten den
Grundstock der Linken. Das schmerzt die SPD natürlich. Aber man muss
auch die Realitäten anerkennen, wonach die Linke wohl auf absehbare
Zeit nicht aus der Parteienlandschaft der Bundesrepublik verschwinden
wird. Lange Zeit glaubte die SPD, sie könne die Linke vom Westen
fernhalten. Dieses Denken muss überwunden werden. Aber seit der Wahl
in Nordrhein-Westfalen zeigt man sich auch im Westen so pragmatisch
wie wir in Sachsen-Anhalt vor 16 Jahren.

Soll die SPD im Bund warten, bis die Linke Forderungen nach dem
NATO-Austritt über Bord wirft oder den Rivalen früher in die
Regierungspflicht nehmen?

Dr. Höppner: Es ist zwingend erforderlich, dass die Linke eigene
Positionen ändert und sich auf den Grundkonsens der Parteien
zubewegt, den man für eine außenpolitische Verlässlichkeit der
Bundesrepublik braucht. Auch die Grünen hatten in ihrer
Gründungsphase den NATO-Austritt im Programm stehen. Den mussten sie
streichen, um im Bund koalitionsfähig zu werden. Das heißt, die
Frage, ob die Linke im Bund koalitionsfähig ist, muss die Linke
selbst vorab beantworten. Das programmatische Sowohl-als-auch der
Linken kann nicht erst abgeschliffen werden, wenn man in
Regierungsverantwortung steht.

Kann die SPD, die als Volkspartei schon in sich Flügelinteressen
austarieren muss, nur verlieren angesichts einer Konkurrenz, die
immer die radikalere Forderung stellt?

Dr. Höppner: Das ist natürlich eine Gefahr, gerade angesichts der
Politikverdrossenheit im Lande. Jetzt fällt es der Linken sehr viel
leichter, Unmutsstimmungen einzusammeln und auf die eigenen Mühlen zu
lenken. Aber so sind nun mal die Realitäten. Wir müssen sie
akzeptieren und sehen, was man daraus machen kann.

Eine Antwort könnten Minderheitsregierungen sein. Wird dieses
Modell angesichts schrumpfender Volksparteien zur Norm?

Dr. Höppner: In Dänemark und Schweden wurde dies über Jahre
praktiziert. Dennoch glaube ich nicht, dass sie auf Bundesebene
tragfähig sind. Weil eine Bundesregierung viel entscheiden muss, was
nicht noch einmal ausführlich im Parlament mit dem
Tolerierungspartner verhandelt werden kann. Auf Länderebene ist das
eher denkbar. Dort wird es auch sehr viel buntere Koalitionen geben,
wie etwa jetzt Jamaika im Saarland.

Wieso hielt das Magdeburger Modell über acht Jahre?

Dr. Höppner: Eine der entscheidenden Voraussetzungen ist ein gutes
Vertrauensverhältnis zwischen den handelnden Personen. Das ist etwa
in Nordrhein-Westfalen schwer, weil die Linke dort ein sehr
zusammengewürfelter Haufen ist.

Welche Qualitäten braucht Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen?

Dr. Höppner: Zunächst mal eine große Gelassenheit und das
Geschick, zu moderieren und Fronten zusammenzuhalten. Letzteres vor
allem auch im Blick auf die eigenen Leute. Hessen hat gezeigt, was
passiert, wenn dies misslingt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Frau
Kraft das fünf Jahre lang durchhält.

Würde eine Rote-Socken-Kampagne gegen eine avisierte Rot-Rot-Grüne
Regierung im Bund noch verfangen?

Dr. Höppner: Das glaube ich nicht. Mittlerweile ist auch für viele
durchschaubar geworden, dass die Union natürlich ein Interesse daran
hat, ihre Pole-Position in Sachen Regierungsbildung zu verteidigen.
Eine Mehrheit links von der Mitte bedroht ihre strategisch günstige
Position. Doch die Tatsache, dass die Linke nicht schnell wieder
verschwinden wird, zwingt auch die Union, sich andere Taktiken zu
überlegen.

Parteichef Sigmar Gabriel liebäugelte auch schon mit einer
Minderheitsregierung im Bund. Nach Ihren Ausführungen ist das ein
Vabanque-Spiel...

Dr. Höppner: Ich glaube nicht, dass er das wirklich ernsthaft
erwogen hat. Man stelle sich etwa die Lage zu Zeiten der Finanzkrise
vor. Da musste man sehr schnell handeln. Etwas, das in derartigen
Konstellationen sehr schwierig ist. Deshalb bleibt diese Option ...
theoretisch.

Das Interview führte

Joachim Zießler

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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