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Rheinische Post: Reformen - gut, dass wir drüber geredet haben

Geschrieben am 30-04-2006

Düsseldorf (ots) - Von Sven Gösmann

Die roten Fahnen werden prächtig im Frühlingswind flattern. Ein
paar hundert, mancherorts sogar ein paar tausend Menschen werden auch
heute wieder zu den Maifeierlichkeiten kommen. Wer nur in Richtung
Bühne schaut, wo sich die zweite oder gar die erste Garde der Politik
mit Festtagsreden abmüht, könnte glatt die hässlichen Lücken
übersehen, die an diesem 1. Mai auf den Marktplätzen klaffen werden.
Kaum ein Tag gewährt so wie der 1. Mai einen Einblick in die
Klamottenkiste unseres in die Jahre gekommenen Gemeinwesens. Dieser
"Tag der Arbeit" und die meisten seiner Akteure sind noch nicht in
der neuen Realität der Bundesrepublik angelangt: Nur noch 39 Prozent
der Menschen leben von der eigenen Arbeitsleistung. Die Zahl der
Arbeitslosen oder in Beschäftigungsmaßnahmen versteckten Jobsuchenden
schätzen Kenner des Systems auf acht Millionen und mehr.
Fast jeden zweiten erwirtschafteten Euro in diesem Land gibt der
Staat aus, in der Regel für Subventionen, die den Ist-Zustand
zementieren, nicht für Investitionen in die Zukunft. Unter mäßiger
Anteilnahme der Bevölkerung dümpeln ein paar Streiks vor sich hin.
Die Gewerkschaftsbewegung, die dabei zu besichtigen ist, bildet vor
allem eine Interessenvertretung von Besitzstandswahrern:
Arbeitsplatzbesitzer demonstrieren für ihre kommode Arbeitszeit von
38,5 Stunden oder Lohnforderungen, die Staat oder Unternehmen die
Luft abwürgen.
Letztlich aber interpretieren die Gewerkschafter bloß die Signale der
Berliner Politik. Es ist kein Wunder, dass der Tarifpoker mit
Warnstreiks und Nachtsitzungen in überheizten Mittelklassehotels noch
vor ein paar Monaten ins letzte Jahrhundert zu gehören schien und
"unter der Käseglocke der großen Koalition" (Politik-Flüchtling
Friedrich Merz) plötzlich ein Comeback erlebt.
Die von der Angst vor Arbeitsplatzverlust, vor allem aber vor
Veränderung geprägte Mittelschicht und ihre gewerkschaftlichen
Vertreter fühlen sich durch Worte und Taten oder eben die
ausbleibenden Taten der Groß-Koalitionäre ermuntert. Wenn sich in
Berlin schon nix tut, warum soll ich mich dann bewegen, fragen sie
sich.
Spricht also der neue SPD-Chef Kurt Beck vom "vorsorgenden
Sozialstaat" als Zukunftsmodell, verstehen alle "versorgender
Sozialstaat". Predigt die Kanzlerin Maßhalten, löst aber gleichzeitig
die Ausgabenprobleme in ihrem Haushalt durch eine dreiprozentige
Mehrwertsteuer-Erhöhung, lockern alle den Gürtel der Ansprüche gleich
um zwei Löcher.
Reformen auf dem Arbeitsmarkt wie die Einschränkung des
Kündigungsschutzes, eine nachhaltige Senkung der Lohnnebenkosten, die
Rente mit 67 oder die Erleichterung von Existenzgründung und
Unternehmertum durch die Zerschlagung bürokratischer Hemmnisse werden
nicht angepackt. Statt dessen setzt die Bundesregierung ihre
Wachstumsprognose herauf, wohlwissend, dass eine Steigerung des
Wachstums hinter dem Komma keinerlei Impulse für den Arbeitsmarkt
bringen wird. Es herrscht ein in den Zeiten des Wohlstands
gewachsenes statisches Verhalten vor, als bestünde die alte
rheinische Republik fort.
Die aus den neuen Ländern stammende Angela Merkel hält still, immer
noch froh, für ihren im Namen der Reformen geführten
Bundestagswahlkampf nur mit einer Wahlniederlage, aber nicht mit dem
Entzug des Kanzleramts bestraft worden zu sein. Sie hat ihre Wähler,
vor allem aber ihre Nicht-Wähler verstanden: Die Freiheit des
einzelnen wird nicht als Versprechen, sondern als Bedrohung
begriffen. Entsprechend orientiert sich das Denken der
Groß-Koalitionäre permanent auf staatliche Regulierung hinaus - ob
beim Elterngeld, der "Reichensteuer", dem "Gesundheitssoli" oder
Volker Kauders Gesundheitsfonds.
Die meisten Handelnden und laut Umfragen auch die meisten der so
Behandelten sind trotzdem zufrieden. Es wird offenbar so viel über
Reformen geredet, dass viele glauben, es hätte welche gegeben. Und zu
dieser Botschaft passt das Ritual des 1. Mai dann doch wieder gut.

Originaltext: Rheinische Post
Digitale Pressemappe: http://presseportal.de/story.htx?firmaid=30621
Pressemappe via RSS : feed://presseportal.de/rss/pm_30621.rss2

Rückfragen bitte an:
Rheinische Post
Redaktion

Telefon: (0211) 505-2303


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