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Mittelbayerische Zeitung: DGB-Chef Sommer: 2010 wird zur Nagelprobe für den Sozialstaat

Geschrieben am 24-12-2009

Regensburg (ots) - Regensburg. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer
sieht das kommende Jahr als Test für die Tragfähigkeit des
Sozialstaats. Im Interview mit der "Mittelbayerischen Zeitung"
(Regensburg) spricht Sommer über Brücken über den Krisenstrom,
zunehmende Arbeitslosigkeit und wer in der Regierung wen in den
Schwitzkasten nimmt.

Herr Sommer, was bringt 2010?

Michael Sommer: Es wird die Nagelprobe, ob dieser Sozialstaat
trägt.

Bislang sind wir glimpflicher durch die Krise gekommen, als
zunächst befürchtet. Wem haben wir das zu verdanken?

Sommer: Der Klugheit unserer Gesellschaft, dem verantwortlichen
Handeln von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften. Alle haben
erkannt, dass diese Finanzkrise eine Deformation größten Ausmaßes ist
und entsprechend reagiert. Die gesellschaftlichen Akteure haben in
der Krise zusammengearbeitet und nicht den kurzen Vorteil gesucht,
von Ausnahmen abgesehen. Vielleicht zeichnet das unser Land aus.

Ist das auch ein Lob für die Politik?

Sommer: Die Politik hat vernünftig reagiert. Sie hat erkannt, dass
wir eine sozial kontrollierte und regulierte Marktwirtschaft
brauchen. Allerdings ist sie über die Erkenntnis nicht
hinausgekommen. Bislang wurde in diesem Bereich nicht geliefert. Das
beklage ich sehr. Die Banken haben das Rettungspaket bis heute nicht
mit einer verbesserten Kreditvergabe beantwortet. Stattdessen machen
sie Geschäfte mit den staatlichen Geldern und die Politik honoriert
ihr Verhalten, indem sie sich immer noch scheut, die Finanzmärkte
nachhaltig zu regulieren.

Wo hat denn Berlin vernünftig reagiert?

Sommer: In der praktischen Politik: Die Bankenrettung war
alternativlos, ebenso die Regelungen zur Kurzarbeit, die
Konjunkturprogramme, die Abwrackprämie. Was wurden wir Gewerkschaften
für diesen Vorschlag zunächst verspottet, dann war es der große
Renner. Wir hätten uns noch mehr Konjunktur-stützende Maßnahmen
gewünscht. Immerhin: Es war ein Paradigmenwechsel. Die Politik ist
über ihren Schatten gesprungen.

Kommt im neuen Jahr das dicke Ende?

Sommer: Die Krise wird wohl leider auf dem Arbeitsmarkt ankommen.
Es ist zu befürchten, dass es 2010 selbst bei geradeaus laufender
Konjunktur und trotz verlängerter Kurzarbeit zu einer deutlichen
Steigerung der Arbeitslosenzahlen kommt.

Sind die Mittel ausgereizt oder kann man noch etwas gegen den
drohenden Beschäftigungseinbruch tun?

Sommer: Es muss nachgearbeitet werden. Wir müssen Brücken über
einen Krisenstrom bauen, dessen Breite wir nicht kennen. Ich halte es
für dringend erforderlich, die Konjunkturprogramme durch weitere
Zukunftsinvestitionen zu verstetigen.

Was heißt das konkret?

Sommer: Beispiel Wohnungsbau, da gibt es einen katastrophalen
Einbruch. Mir sagen die Kollegen von IG BAU, in normalen Zeiten
müssten jährlich 300 000 Wohneinheiten gebaut werden. Derzeit sind es
nicht einmal 100 000. Auch beim Klimaschutz oder bei
Zukunftsinvestitionen in Forschung und Bildung müsste viel mehr
passieren.

Inzwischen regiert Schwarz-Gelb. Droht damit die soziale Eiszeit
oder war das nur ein Wahlkampf-Popanz?

Sommer: Ich glaube schon, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und
die Union erkannt haben, dass soziale Marktwirtschaft sozialen
Ausgleich und sozialen Frieden braucht. Bei Mitbestimmung,
Kündigungsschutz, Tarifautonomie tragen sie dem bisher Rechnung. Da
ist offensichtlich dazugelernt worden.

Das klingt nach großer Zufriedenheit.

Sommer: Nein, dass war nur der erste Teil meiner Antwort. In den
Niederungen der Ebene merkt man dann die wahre Absicht. Beispiel
Mindestlöhne: Selbst wo die Tarifparteien mit sechs zu null einen
Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt haben wollen, wie in
der Abfallwirtschaft, blockiert die FDP, blockiert insbesondere
Wirtschaftsminister Rainer Brüderle.

Die Beschäftigten der Abfallwirtschaft bekommen künftig einen
Mindestlohn...

Sommer: Ja, eine richtige und in meinen Augen unausweichliche
Entscheidung. Bundesministerin von der Leyen muss aber noch in diesem
Jahr die Mindestlohnverordnung unterzeichnen, damit sie Anfang Januar
in Kraft treten kann. Aber dieses Prozedere von Schwarz-Gelb zeigt um
so mehr, dass die FDP einen auf ,gelbe Gefahr' macht. Das gilt
genauso für die Kettenbefristungen, also die Frage, ob es möglich
ist, sachgrundlose Befristungen aneinander zu ketten.

Gibt es zukünftig bei jedem Mindestlohn ein solches Gezerre?

Sommer: Das wäre ein ganz schlimmes Signal. Es würde zeigen, dass
diese Regierung gerade in dieser schweren Zeit soziale Verantwortung
als drittrangig einstuft. 2011 muss Schwarz-Gelb eine prinzipielle
Antwort auf den Mindestlohn geben. Dann tritt die volle
Arbeitnehmer-Freizügigkeit in der EU in Kraft. Passiert nichts, wie
es die FDP will, dann werden wir erleben, wie Arbeitnehmer aus
Osteuropa für mieseste Lohndrückerei bei uns eingesetzt werden. Die
Alternative ist eine Mindestlohn-Politik. Wir müssen flächendeckend
eine Lohnuntergrenze einziehen, um Armutslöhne zu bekämpfen und
zugleich die Tarifautonomie gegen Ausfransung nach unten zu schützen.

Das wird die FDP niemals mitmachen.

Sommer: Aber das wird das zentrale Thema für Millionen Menschen,
übrigens auch für Handwerksbetriebe. Wenn die Regierung in diesem
Punkt nicht zur Einsicht kommt, werden wir Druck machen und
eskalieren. In dieser Frage werden wir keine Ruhe geben. Ein solches
Lohndumping werden wir nie zulassen.

Hat die FDP die Union in den Schwitzkasten genommen?

Sommer: Das Bild ist nicht schlecht. Momentan dominiert eher Gelb
als Schwarz. Bisher prägt neben Stümperhaftigkeit die gelbe
Klientelpolitik das Bild dieser Koalition. Die Union muss sich
fragen, wo ihr Gestaltungsauftrag liegt und wie lange sie sich das
noch gefallen lassen will.

Originaltext: Mittelbayerische Zeitung
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/62544
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_62544.rss2

Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion Politik/Nachrichten
Telefon: +49 941 / 207 404
nachrichten@mittelbayerische.de


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