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Berliner Morgenpost: Die deutsche Einheit bleibt eine täglich neue Aufgabe - Leitartikel

Geschrieben am 07-11-2009

Berlin (ots) - Zu den größten Missverständnissen gehört die
typisch deutsche Annahme, bei der Einheit handele es sich um einen
geraden, übersichtlichen Vorgang, der eines Tages erledigt sei wie
die Steuererklärung. Unsinn! Seit dem 9. November 1989 herrscht ein
hochkomplexes Wabern zwischen Glück und Unglück, großer und kleiner
Ökonomie mit dörflichen bis weltpolitischen Schwingungen. Die
Einheit, das sind über 80 Millionen Leben mit keineswegs
einheitlichen Empfindungen.
Für Helmut Kohl bedeutet der Mauerfall den sicheren Eintrag im
Geschichtsbuch, für Egon Krenz dagegen eine Art Verbannung in sein
Ostseehaus. Viele DDR-Bürger haben die Einheit gewollt und
angenommen, den Westen für sich genutzt - allen voran die
Integrationskünstlerin Angela Merkel. Andere, und nicht nur die
Trägen, sind abgehängt worden. Viele Westler mögen den offenen Blick
nach Osten, andere fürchten sich oder bejammern noch immer den Soli.
Von Korea aus wird die Einheitsleistung der beiden Deutschlands als
Wunder betrachtet, das als Blaupause dienen wird, falls das
asiatische Land eines Tages wieder zusammenfindet. Für manche
Menschen dagegen ist die Einheit nach wie vor eher Trauma als Traum.
Kerstin Kaiser zum Beispiel, die Machtfrau der Brandenburger
Linkspartei, gesteht, dass der Moment, da die Mauer fiel, für sie
kein Grund zum Jubeln war, sondern der Moment, da sie ihre Heimat
verlor. Und es sind nicht nur SED-Kader, die bis heute das Gefühl
haben, im neuen Land noch nicht angekommen zu sein. Da ist nicht nur
Ostalgie im Spiel, sondern das real existierende Gefühl, sich für die
eigene Biografie unentwegt entschuldigen zu müssen.
Der Einheitsprozess verläuft nicht linear, sondern in Wellen und
Kreisen, die sich ob ihrer verschiedenen Tempi vielfach überlagern
oder gar entgegenlaufen und widersprüchlichste Emotionen erzeugen.
Einer gigantischen volkswirtschaftlichen Leistung steht gefühlter
oder realer Abstieg gegenüber, der weltweit wohl größten ökologischen
Sanierung ein schleichendes Veröden, dem Gewinn der Freiheit die
Sehnsucht nach staatlicher Rundumfürsorge.
Spätestens mit dem nahezu in allen Bundesländern etablierten
Fünfparteiensystem sollte nun auch der letzte Westler begriffen
haben, dass der 9. November sehr konkrete politische Folgen hatte.
Der Umgang mit neuen Mehrheitsoptionen will noch gelernt werden.
Brandenburgs Ministerpräsident hat grundsätzlich recht, wenn er
Versöhnung anmahnt; die Kanzlerin liegt aber ebenso richtig, wenn sie
feststellt, dass es einen Schlussstrich nicht geben könne. Wie sollte
dieser Strich auch aussehen? Man kann die Vergangenheit nicht aus den
Köpfen schneiden. Die Jahre von 1949 bis 1989 werden immer im
kollektiven Gedächtnis der Deutschen haften bleiben, sich mit der
Zeit aber zwischen, unter, über andere Epochen-Sedimente legen.
Die Einheit war und ist ohne Alternative. Und der Umgang damit eine
täglich neue Aufgabe.

Originaltext: Berliner Morgenpost
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/53614
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_53614.rss2

Pressekontakt:
Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de


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