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Landeszeitung Lüneburg: ,,Nationalromatik heizt den Konflikt an" 60 Jahre nach Gründung Israels droht religiöser Fundamentalismus als neue Gefahr, sagt der Historiker Prof. Moshe Zimmermann im Intervi

Geschrieben am 08-05-2008

Lüneburg (ots) - Ausgelassen feiert Israel den 60. Jahrestag
seiner Gründung. Doch schwere Hypotheken belasten die
Feierlichkeiten: Die soziale Kluft im Lande wächst trotz
Wirtschaftsboom. Skandale von Politikern untergraben das Ansehen des
Staates, Frieden bleibt ein Traum. Der Jerusalemer Historiker Moshe
Zimmermann zieht eine Bilanz nach 60 Jahren Israel und wagt einen
Ausblick. Er warnt: Der Trend zu religiösem Fundamentalismus in und
außerhalb Israels mindert die Chancen auf Versöhnung.

Eine Mehrheit der Deutschen erkennt keine besondere Verantwortung
für Israel an. Schockiert Sie diese Umfrage?
Prof. Moshe Zimmermann: Nein, das schockiert mich keineswegs. Wenn 53
Prozent der Bürger eine besondere Verantwortung gegenüber Israel
verneinen, heißt das nicht, dass sie die Bekämpfung von
Antisemitismus ablehnen. Eine derartige Umfrage ist sehr stark
tagespolitisch geprägt -- und da Israels Politik in den besetzten
Gebieten keinen guten Ruf hat, kann einen ein solches Ergebnis nicht
erstaunen. Die Regierung, das offizielle Deutschland, benutzt die
Formel von der "besonderen Verantwortung" als Parole. Aber für die
einfachen Bürger sind das nur Floskeln. Ihnen scheint diese Formel
gleichbedeutend zu sein mit einer Benachteiligung der Palästinenser.
Würde gefragt werden, ob es eine besondere Verantwortung gegenüber
Juden hinsichtlich des Kampfes gegen Rassismus geben, käme es nicht
zu 53 Prozent Ablehnung.

In 60 Jahren hat Israel die Wüste erblühen lassen und Juden
unterschiedlichster Herkunft integriert. Ist Israel eine
Erfolgsgeschichte?
Prof. Zimmermann: Was Integration anbelangt, kann man dies in der Tat
als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Hier wurden Gruppen von Juden mit
ganz unterschiedlichen Hintergründen, die kaum Kontakt zueinander
hatten, zu einer Gesellschaft mit einem gemeinsamen Nenner geformt.
Von diesem Erfolg könnten auch andere Einwanderungsländer lernen, zum
Beispiel in Europa. Aber andere Aspekte stellen das Prädikat
"Erfolgsgeschichte" in Frage: Eine Gesellschaft, die es in 60 Jahren
nicht schafft, Konflikte mit der Umgebung -- vor allem den
Palästinensern -- zu beenden, kann man nicht als erfolgreich
bezeichnen.

Immer wieder musste Israel um seine Existenz kämpfen. Doch auch
nach 60 Jahren will Teheran Israel von der Landkarte radieren. Wann
darf Israel in Frieden leben?
Prof. Zimmermann: Das ist eine Frage für Propheten. Die Tatsache,
dass man nicht in Frieden leben kann, hat viel damit zu tun, dass
sowohl die israelische als auch die arabisch-palästinensischen
Gesellschaften nationalistisch orientiert sind. Beide Seiten halten
die Nation für die Krönung des kollektiven Bewusstseins -- wie die
Europäer im 19./20. Jahrhundert. Von daher sind Konflikte
wahrscheinlicher als Versöhnung. Erst wenn man von der Kombination
eines extremen Nationalismus mit religiösem Eifertum abrückt, gibt es
eine Chance für den Frieden. Zudem muss man noch hoffen, dass auch im
Iran ein Wandel eintritt. Iran, der seine Feindschaft zu Israel aus
religiösen Motiven nach 1979 erfunden hat.
Frieden mit den Palästinensern würde auch Israels Akzeptanz bei
seinen arabischen Nachbarn stärken. Woran krankt der Friedensprozess?
Prof. Zimmermann: Unser Annus mirabilis war das Jahr 1967 mit dem
Sechstagekrieg. Danach entwickelte sich in Israel eine
nationalromantische, religiös gefärbte Stimmung. Auf der Gegenseite
war es ähnlich. Diese Parallelentwicklung sorgt dafür, dass der
Konflikt weitergeführt wird statt ihn zu beenden. Weil Israel die
romantische Vorstellung des Heiligen Landes in politische Realität
verwandelt, indem es Siedlungen baut, verschärft es die Spannungen.

Wurde in dem "Wunderjahr" 1967 auch das Kibbuz-Ideal der
Gleichheit, dem die Gründergeneration anhing, beschädigt, als Israel
Territorium besetzte -- und plötzlich billige palästinensische
Arbeitskräfte zur Verfügung standen?
Prof. Zimmermann: Das hat weniger mit den billigen Arbeitskräften aus
den besetzten Gebieten zu tun als viel mehr mit einer neoliberalen
Verwandlung des Wohlfahrtsstaates, wie sie sich auch in Europa
vollzog. Die Kibbuzim wurden vernichtet unter der Regierung Begin --
also einem klar nationalistischen und kapitalistischen Kabinett -- ab
1977. Damals wurde der Traum von einer gerechten und egalitären
Gesellschaft aufgegeben. Seitdem haben die Kibbuzim und die
sozialdemokratische Idee keine Chance mehr in Israel gehabt.
Ist Israel bereit, sich von der Idee eines "Groß-Israel" zu
verabschieden? Prof. Zimmermann: Die Mehrheit in Israel ist bereit,
das zeigen Umfragen, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen.
Nicht aus allen, denn die wirklich großen Siedlungen zu räumen, ist
für die meisten Israelis undenkbar. Aber 90 Prozent der besetzten
Gebiete würden die meisten Israelis für den Preis des Friedens
aufgeben.

Hat der allgegenwärtige Terror die israelische Gesellschaft
verändert?
Prof. Zimmermann: Der Terror hat das Land vor allem in den Jahren
zwischen dem Oslo-Abkommen 1994 und der zweiten Intifada 2004/05 sehr
verunsichert. Es bildete sich eine Art Abwehrmechanismus heraus, der
eine Absage an eine humanitäre Behandlung der Palästinenser
einschloss. Man war so weit terrorisiert, dass man das ganze
palästinensische Volk als Terroristen definierte.

Bedroht Terror die Fähigkeit der Gesellschaft, demokratisch zu
bleiben?
Prof. Zimmermann: Israel ist in dieser Beziehung ein Mikrokosmos der
Welt. In dem Moment, in dem man terrorisiert wird, ist die Reaktion
radikal. Das erlebten wir in den USA nach dem 11. September, aber
auch in Großbritannien, Spanien und Deutschland. Unter Terrorangst
sind die Menschen bereit, auf demokratische Werte zu verzichten. In
Israel hat die Demokratie nach zehn Jahren intensiven Terrors zwar
nicht aufgegeben, aber eingebüßt.

Kann die EU bei der Lösung des israelisch-palästinensischen
Konfliktes helfen?
Prof. Zimmermann: Die EU muss mehr unternehmen als bisher. Ihre
beiden Standardargumente zur Begründung ihrer Zurückhaltung ziehen
nicht mehr: Zum einen hieß es: Die USA würden es richten. Das
funktioniert im Moment nicht, weil die USA schwächer geworden sind.
Versucht Washington, eine neue Ordnung zu schaffen, sorgt es nur für
mehr Unordnung. Zum zweiten vertrat die EU die Ansicht, die
nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands mache ein
intensiveres Engagement in Nahost unmöglich. Doch kaum ein Israeli
identifiziert das heutige Europa mit dem der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Deshalb kann Europa mehr wagen in der Region.

Beinhaltet das auch europäische Friedenstruppen, die als Puffer
zwischen den Gegnern fungieren könnten?
Prof. Zimmermann: Die Idee von Friedenstruppen ist von Israel längst
akzeptiert worden. Auf den Golanhöhen sind Österreicher stationiert
und entlang der Küsten patrouillieren Schiffe der deutschen Marine.
Aber für die Lösung des Konfliktes mit den Palästinensern sind
Friedenstruppen völlig inadäquat. Die besetzten Gebiete sind klein
und es fehlt wegen der vielen Siedlungen an klaren Grenzen. Deshalb
machen hier Friedenstruppen keinen Sinn. Wertvoll wäre eine
europäische Initiative für Verhandlungen über einen Abzug aus den
besetzten Gebieten.

Behindert der wichtigste israelische Verbündete, die USA, sogar
eine umfassende Friedenslösung, indem es Syrien zum Paria stempelt?
Prof. Zimmermann: Eindeutig ja. Diese Haltung der USA gegenüber
Syrien hemmt Israels Politik. Es gibt in Israel sowohl auf dem linken
wie auf dem rechten Flügel genug Politiker, die bereit wären, für
einen Frieden mit Syrien auf die Golanhöhen zu verzichten. Indem die
für die Gestaltung einer eigenen Ordnung zu schwachen USA dies
blockieren, torpedieren sie den Friedensprozess in Nahost.

Halten Sie es für realistisch, dass es wirklich
Geheimverhandlungen zwischen Israel und Syrien gibt, wie syrische
Oppositionelle behaupteten?
Prof. Zimmermann: Ja, das wurde hier eingeräumt, wenn auch keine
Details genannt wurden. Ich vermute, dass nicht nur die Türkei,
sondern auch Deutschland Vermittlungs"dienste leistet. Europäer
versuchen, diese Hürde zu beseitigen, warten aber geduldig auf den
neuen US-Präsidenten.

Niemand eignet sich so gut zum Propheten wie ein Historiker: Wie
sieht Israel in zehn Jahren aus?
Prof. Zimmermann: Israel 2008 setzt verstärkt auf Hightech, deshalb
wird Israel 2018 ein technologisch sehr stark entwickeltes Land sein.
Israel wird einen Weg gefunden haben, mit den Nachbarn einigermaßen
in Frieden zu leben. Das Problem werden nicht mehr die Palästinenser
oder die arabischen Staaten sein, sondern die stärker werdende
fundamentalistische Religiosität auf jüdischer wie arabischer Seite.
Nur wenn das Pendel zurückschlägt zuguns"ten der Betonung des
individuellen Wohlstandes auf der Welt, hat der Frieden eine echte
Chance.
Das Interview führte Joachim Zießler

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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