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Mittelbayerische Zeitung: Heißer Herbst in Prag / Der Regierungschef übersteht das Misstrauensvotum nur knapp. Die nächsten Massenproteste sind programmiert. Von Ulrich Krökel

Geschrieben am 27-06-2019

Regensburg (ots) - Es gab viel zu bereden im Parlament von Prag.
Mehr als 17 Stunden debattierten die Abgeordneten, bevor Andrej Babis
tief in der Nacht zu Donnerstag vorerst aufatmen konnte. Ein
Misstrauensantrag gegen den tschechischen Regierungschef scheiterte
knapp. Ein Vertrauensbeweis sieht allerdings auch anders aus: Je 85
Ja- und Nein-Stimmen hielten sich exakt die Waage. Den Ausschlag
gaben die vielen Enthaltungen, vor allem aus den Reihen der
Sozialdemokraten, die mit der populistischen ANO-Partei des
Premierministers eigentlich eine Koalition bilden. Vor diesem
Hintergrund bedarf es keiner ausgeprägten prophetischen Gaben, um für
Tschechien einen heißen politischen Herbst vorherzusagen. 30 Jahre
nach der Samtenen Revolution sind andauernde Streitigkeiten in
Parlament und Regierung sowie neue Massenproteste gegen den
mutmaßlich korrupten Multimilliardär Babis vorprogrammiert. Bereits
am vergangenen Sonntag hatten sich mehr als 250 000 Menschen zur
größten Kundgebung seit 1989 in Prag versammelt, um den Rücktritt des
64-Jährigen zu fordern, dem die tschechische
Generalstaatsanwaltschaft sowie die EU-Kommission Subventionsbetrug
vorwerfen. Dabei möge man sich nicht von nackten Zahlen täuschen
lassen. Eine Viertelmillion Demonstranten sind zwar viel, sehr viel
sogar, aber im Vergleich zu 8,5 Millionen Wahlberechtigten doch eine
Minderheit. Bei der Europawahl war die ANO klar stärkste Partei in
Tschechien, ungeachtet aller Korruptionsvorwürfe gegen den
Parteichef. Tritt man einen Schritt zurück, ergibt sich eher das Bild
einer Gesellschaft, die ähnlich gespalten ist wie das Parlament mit
seinen je 85 Ja- und Neinsagern. Babis und seine Populisten verfügen
vor allem in den ländlichen Regionen über eine große Anhängerschaft,
während die liberale Opposition in Prag und anderen Städten
dominiert. Man kennt dieses Bild längst aus vielen anderen
demokratischen Staaten, vor allem aus den USA: Auf der einen Seite
versammeln sich die weltoffenen, meist jungen und
durchdigitalisierten Globalisierungsfreunde, auf der anderen Seite
die Nationalisten, die eher Älteren und Konservativen sowie die
Abgehängten. Allerdings ist Babis zwar ein milliardenschwerer
Unternehmer, aber eben doch kein Donald Trump. Außerdem ist sein
Reichtum vielen Tschechen suspekt, während Geld in den USA noch immer
mit Erfolg gleichgesetzt wird. Babis ist deshalb sehr viel stärker
auf Bündnispartner angewiesen als Trump. Dafür sorgt auch das
tschechische Regierungssystem mit einem Premier, der zwar die
Richtlinien der Regierungspolitik bestimmt, dem aber ein direkt
gewählter Präsident das politische Leben durchaus schwermachen kann.
Amtsinhaber Milos Zeman tut das nicht. Er ist kaum weniger
populistisch gestimmt als Babis und hat mehrfach angekündigt, keinen
anderen Premier zu akzeptieren. Das ist viel wert für den
Regierungschef, aber nur die halbe Miete. Im Amt wird sich Babis nur
dann halten können, wenn ihn die sozialdemokratische CSSD weiter
unterstützt. Dass sie dies bislang tut und dabei sogar mit den
tschechischen Steinzeit-Kommunisten gemeinsame Sache macht, ist und
bleibt eine Schande für die stolze und aus Prinzip staatstragende
Partei. Das sehen im Übrigen auch die meisten Tschechen so. Deswegen
fürchtet die CSSD vollkommen zu Recht, bei Neuwahlen stärker
abgestraft zu werden als Babis. Und genau deshalb haben sich viele
Sozialdemokraten bei der Vertrauensabstimmung im Parlament enthalten.
Allerdings gilt noch immer der alte Spruch: In Gefahr und größter
Not, bringt der Mittelweg den Tod. Es sollte sich also niemand
wundern, wenn es in Prag am Ende dieses Jahres keinen Premier Babis
mehr gibt, aber auch keine Sozialdemokraten.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de

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