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Fehlende Pressefreiheit in Ungarn ist eine Gefahr für ganz Europa

Geschrieben am 09-04-2018

Berlin (ots) - Nach dem Wahlsieg der nationalkonservativen
Fidesz-Partei in Ungarn ruft Reporter ohne Grenzen die Europäische
Kommission auf, sich deutlich gegen die Aushöhlung der Pressefreiheit
in dem EU-Mitgliedsstaat zu positionieren. Die Regierung von
Ministerpräsident Viktor Orbán bestimmt teilweise mit wörtlich
vorgefertigten Stücken die Berichterstattung im staatlichen Rundfunk;
sämtliche Regionalzeitungen sind im Besitz Orbán-freundlicher
Unternehmer. Auf der Rangliste der Pressefreiheit ist Ungarn seit dem
Amtsantritt Orbáns 2010 um fast 50 Plätze auf Rang 71 gefallen - eine
so starke Verschlechterung ist Europa ohne Beispiel.

"Die Regierung Orbán zerstört nicht nur den Rechtsstaat in Ungarn,
sie ist eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie in ganz Europa",
sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. "Wenn die Europäische
Kommission dem tatenlos zusieht, ist das in höchstem Maße
fahrlässig."

MEDIEN IM WAHLKAMPF: FEST IN DER HAND DER REGIERUNG

In den Monaten vor der Parlamentswahl hat sich das Ungleichgewicht
im stark polarisierten ungarischen Mediensystems besonders deutlich
gezeigt. Durch die erdrückende Übermacht Fidesz-naher Medien vor
allem im Rundfunk waren Kandidaten der Opposition kaum Gegenstand
sachlicher Berichterstattung, sondern vor allem Ziel von
Verleumdungskampagnen. Mitte März verhängte die Nationale
Wahlkommission eine symbolische Strafe von einer Million Forinth (ca.
3.200 Euro) gegen den staatlichen Fernsehkanal M1, weil er den zur
Wahl stehenden Parteien nicht die gleiche Sendezeit einräumte. Der
Sender hatte Kandidaten der Opposition nicht einmal in Berichten über
diese selbst zu Wort kommen gelassen. (http://t1p.de/wmv0) Das
ungarische Verfassungsgericht bestätigte wenig später die
Entscheidung der Wahlkommission.

Ende Februar beschrieben zwei Mitarbeiter der staatlichen
Medienholding MTVA im Sender Al-Dschasira, dass Redaktionen teilweise
wörtlich vorgefertigte Berichte von der Regierung erhielten, die sie
auszustrahlen hätten. Die Whistleblower berichteten von
Kontaktpersonen in den Redaktionen, die Fidesz-Themen platzierten und
für eine entsprechende Wortwahl sorgten. (http://t1p.de/gjzb) Die
Regierung Orbán hatte die öffentlich-rechtlichen Sender nach ihrem
Amtsantritt 2010 in der staatseigenen Medienholding MTVA
zusammengefasst und veranlasst, dass die Nachrichtenagentur MTI ihr
Material kostenlos anbietet. Auf diese Weise verdrängte die Agentur
sämtliche Wettbewerber vom Markt und wurde vor allem für regionale
Medien zum alleinigen Nachrichtenlieferanten.

HAUSVERBOTE UND SCHMUTZKAMPAGNEN GEGEN KRITISCHE JOURNALISTEN

Regierungskritische und investigative Berichterstattung findet
über Online-Portale wie 444.hu, direkt36.hu, atlatzso.hu eine
deutlich geringere Leserschaft. Ein größeres Publikum erreicht sie in
Einzelfällen allein aus wirtschaftlichen Gründen: Der
reichweitenstarke Privatsender RTL Klub übernimmt Material von
direkt36.hu und atlatzso.hu in sein Programm, seit die Regierung dem
Sender vor einigen Jahren eine Sondersteuer auferlegte. Und die
Medien im Besitz des Unternehmers Lajos Simicska, darunter die
Tageszeitung Magyar Nemzet und der Nachrichtensender HírTV, berichten
erst kritisch über die Regierung, seit sich Simicska - bis dahin ein
enger Freund des Premiers - 2015 mit Orbán entzweite.

In der täglichen Arbeit werden regierungskritische Redaktionen
nicht nur durch die selektive Verteilung staatlicher Anzeigen und die
Vergabe von Frequenzen benachteiligt. Etlichen Journalisten ist der
Zugang zum Parlament verwehrt. Der Parlamentssprecher kann
Hausverbote nach eigenem Ermessen aussprechen und schließt wahlweise
einzelne Reporter oder ganze Redaktionen aus. Minister und Direktoren
öffentlicher Einrichtungen dürfen nur nach vorheriger Erlaubnis durch
das Büro des Premierministers mit Journalisten sprechen.
Akkreditierungen für Pressekonferenzen werden willkürlich vergeben,
oft werden nur die Fragen regierungstreuer Journalisten zugelassen.
(http://t1p.de/pgy6)

Beispiellos war eine Schmutzkampagne gegen ungarische oder
ungarisch-stämmige Korrespondenten ausländischer Medien auf dem
regierungsnahen Portal 888.hu im September 2017. Es veröffentlichte
eine Liste namentlich aufgeführter Journalisten und verunglimpfte sie
als ausländische Propagandisten des ungarnstämmigen US-Milliardärs
George Soros (http://t1p.de/sb3i).

GESAMTE REGIONALPRESSE GEHÖRT ORBÁN-TREUEN UNTERNEHMERN

Neben dem staatlichen Rundfunk informiert sich die Bevölkerung in
Ungarn vor allem aus der regionalen Presse, die seit dem Sommer 2017
vollständig im Besitz Fidesz-naher Unternehmer ist.
(http://t1p.de/6vq1) Der Oligarch Lörinc Mészáros - ein Schulfreund
und enger Verbündeter Orbáns - hatte mit seinem Verlag Opimus Press
bereits Oktober 2016 das Unternehmen Mediaworks Hungary gekauft, dem
der Großteil der ungarischen Regionalpresse gehört. Ende Juli 2017
verkaufte das österreichische Unternehmen Russmedia die drei
Tageszeitungen Hajdú-Bihari Napló, Észak-Magyarország und
Kelet-Magyarország an die Firma Media Management Development Kft, die
dem österreichischen Unternehmer Heinrich Pecina nahesteht.

Der Filmproduzent Andrew Vajna, der die Regierung seit 2011 als
Beauftragter für die Filmindustrie unterstützt, kaufte im August 2017
schließlich die Pressegruppe Lapcom, zu der unter anderem die
Regionalzeitungen Délmagyarország und Kisalföld und die
Boulevardzeitung Bors gehören. 2015 hatte Vajna mit Krediten von zwei
staatsnahen Banken bereits den zweitgrößten Privatsender Ungarns, TV
2, gekauft, außerdem besitzt er den Radiosender Radio 1.
(http://t1p.de/n7sr)

UNABHÄNGIGE REDAKTIONEN ZERSCHLAGEN

Am 8. Oktober 2016 wurde in einer Nacht- und Nebelaktion die
auflagenstärkste überregionale Tageszeitung Ungarns Népszabadság
eingestellt. (http://t1p.de/itxs) Ohne jede Ankündigung standen ihre
Redakteure am nächsten Morgen vor verschlossenen Türen. Ihre
E-Mail-Zugänge waren gesperrt, das Online-Archiv der Zeitung
abgeschaltet worden. Das Unternehmen Mediaworks Hungary, dem die
Zeitung gehörte, argumentierte, das Blatt habe zu hohe Verluste
gemacht. Mitarbeiter der Zeitung hingegen sehen eine politische
Motivation: Wenige Tage zuvor hatte Népszabadság über einen
Korruptionsskandal berichtet, in den ranghohe Fidesz-Politiker
verwickelt waren. Die Zeitung galt als wichtige Stimme der linken
Opposition und regierungskritischer Intellektueller. Wenige Wochen
nach der Schließung von Népszabadság ging Mediaworks Hungary, das
zuvor zum Firmenimperium von Heinrich Pecina gehört hatte, in den
Besitz des Oligarchen und Orbán-Freunds LÅ'rinc Mészáros über. Der
gab im Dezember 2016 bekannt, die Zeitung werde den Betrieb nicht
wieder aufnehmen (http://t1p.de/chgf).

Zwei Jahre vorher war die Redaktion von origo.hu zerstört worden,
die durch exklusive Geschichten, interessante Hintergrundstücke und
erfolgreiche Experimente mit Multimedia-Inhalten eine breite
Leserschaft erreicht hatte. Die Seite gehörte zu Magyar Telekom,
einer Tochterfirma der Deutschen Telekom, die damals mit der
ungarischen Regierung über die Vergabe neuer Mobilfunkfrequenzen
verhandelte. Kurz nachdem das Portal einen Spesenskandal aufgedeckt
hatte, in den Viktor Orbáns Kanzleichef János Lázár verwickelt war,
wurde im Juni 2014 überraschend Chefredakteur Gergö Sáling entlassen
(http://t1p.de/htlt). Fast die Hälfte der Origó-Redakteure kündigte
danach aus Solidarität mit Sáling (http://t1p.de/3nch). Die Telekom
verkaufte Origó an das Fidesz-nahe Unternehmen New Wave Media und
erhielt sowohl die gewünschten Mobilfunkfrequenzen als auch einen
milliardenschweren staatlichen Auftrag für den Breitbandausbau.
(http://t1p.de/doof)

RADIKALER UMBAU DES MEDIENSYSTEMS SEIT 2010

Die Grundlage für die staatliche Dominanz des ungarischen
Mediensystems hatte die Regierung von Viktor Orbán bereits
unmittelbar nach ihrem Antritt 2010 gelegt: Sie brachte ein schwammig
formuliertes Mediengesetz auf den Weg, das die Medien zu
"ausgewogener Berichterstattung" verpflichtet, welche die "nationale
Identität" stärken soll und weder die "öffentliche Moral" noch die
"menschliche Würde" verletzen darf.

Die Regierung schuf die Nationale Medien- und
Kommunikationsbehörde NMHH, deren Mitglieder ausschließlich sie
selbst ernannte und die sie mit umfangreichen Kompetenzen
ausstattete: Die NMHH ist nicht nur für den staatlichen Rundfunk
zuständig, sondern für sämtliche in Ungarn erscheinenden Medien. Sie
kontrolliert den Inhalt von Beiträgen auf "politische Ausgewogenheit"
und kann bei Verstößen hohe Geldstrafen verhängen. Mehr als
eintausend Beschäftigte verloren ihre Stellen, nachdem Fidesz mehrere
bisher eigenständige öffentlich-rechtliche Sender in der staatlichen
Medienholding MTVA zusammenfasste.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Ungarn auf Platz 71 von
180 Staaten - vor Viktor Orbáns Amtsantritt 2010 stand Ungarn noch
auf Rang 23. Weiter Informationen zur Lage der Journalistinnen und
Journalisten in Ungarn finden Sie unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/ungarn.



Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink
presse@reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de/presse
T: +49 (0)30 609 895 33-55
F: +49 (0)30 202 15 10-29

Original-Content von: Reporter ohne Grenzen e.V., übermittelt durch news aktuell


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