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Landeszeitung Lüneburg: Erdogan ordnet alles seiner Vision unter / Türkei soll islamische Vormacht werden - Orient-Experte Prof. Steinbach erwartet wachsende Spannungen

Geschrieben am 14-08-2014

Lüneburg (ots) - Eine "neue Türkei" versprach Recep Tayyip Erdogan
im Wahlkampf. Nach seinem Sieg mit absoluter Mehrheit ist klar: Er
wird sich nicht auf eine repräsentative Rolle beschränken. Erdogan
schwebt eine Machtfülle vor, wie sie etwa der US-Präsident hat. Wird
Erdogan der Türkei eine radikale Wende verordnen wie einst
Staatsgründer Atatürk? Türkei- und Orientexperte Prof. Udo Steinbach
hält Erdogan für ambitioniert: "Zum hundertsten Gründungstag der
türkischen Republik 2023 will Erdogan eine starke Macht formen, die
sich am Islam orientiert."

Präsident in spe Recep Tayyip Erdogan rief zu einem
Aussöhnungsprozess auf. Ist er der Mann, dies zu leisten, oder wird
sich die Spaltung zwischen der städtischen und der ländlichen Türkei
vertiefen?

Prof. Udo Steinbach: Er ist sicherlich nicht der Mann für eine
nationale Aussöhnung. Im Gegenteil: Die Spaltungen werden sich
vertiefen. Zumal der Regierungsstil von Erdogan als Präsident
vorhersehbar ist. Auf der einen Seite wird er autoritär sein, auf der
anderen den Islam als Leitbild propagieren.

Gelenkter Staat, Präsidialdemokratie oder Gottesstaat? Wohin wird
Erdogan die Türkei führen?

Prof. Steinbach: Wenn Sie das Erdogan selbst fragen würden, wäre
klar, wohin er den Staat führen möchte: Nämlich ins Jahr 2023. Zum
hundertsten Jahr der türkischen Republik will Erdogan eine ökonomisch
und politisch starke, international angesehene Türkei formen. Diesem
gigantischen Projekt ordnet er alles andere unter. Im Jahr 1923
definierte sich die Türkei als säkularer Staat, der den Bruch mit dem
Osmanischen Reich probte. Hundert Jahre später soll sich eine
erstarkte Türkei nach Erdogans Willen in die kulturelle und religiöse
Tradition der Türken einordnen.

Plant er sogar den Bruch mit der von Atatürk begründeten säkularen
Tradition?

Prof. Steinbach: Das ist nicht sicher. Bisher scheute er vor
Schritten in diese Richtung zurück. Auch in Reden, die er in den
vergangenen Jahren im arabischen Raum hielt, hat er den säkularen,
laizistischen Charakter der Türkei betont. In der jüngsten
Vergangenheit brauchte er auch die Unterstützung der Militärs, dieser
Garanten des säkularen Staates, deren Einfluss er beschnitten hat.
Die Abhängigkeit von den Militärs wird angesichts des unsicheren
außenpolitischen Umfelds der Türkei eher noch wachsen. Folglich wird
Erdogan sehr behutsam vorgehen und natürlich keine islamische
Republik nach iranischem Vorbild begründen. Aber die Gesellschaft
soll durch und durch getränkt sein vom Geist und vom Ethos des Islam,
so wie Erdogan die Religion versteht.

Als Präsident sind Erdogans Entscheidungen nicht mehr juristisch
anfechtbar. Werden Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung noch stärker
beschnitten?

Prof. Steinbach: Das ist wahrscheinlich. Wer immer ihm auf dem Weg
zu seinem großen Ziel, die Türkei bis 2023 zu einer wirtschaftlich
prosperierenden regionalen und islamischen Vormacht zu formen, im
Wege steht, wird seine Macht zu spüren bekommen - egal, ob dies die
Zentralbank, die Opposition oder städtische Jugendliche sind. Zur
Verwirklichung seiner Vision ist ein autoritärer Führungsstil
angesagt, mit all den Unwägbarkeiten, die dieser mit sich bringt.
Denn das Wahlergebnis zeigt, wie polarisiert die Türkei ist: 52
Prozent für Erdogan, 48 Prozent gegen ihn. Dass dies zu politischen
Konflikten führen kann, ja, an den Rändern des Parteienspektrums
sogar zu politisch motivierten Gewalttaten führen kann, ist
wahrscheinlich.

Die AKP hat sich längst von der Reformer- zur Status-quo-Bewegung
gewandelt. Droht ihr nun eine Zukunft als reine Akklamationsbewegung
für den starken Mann?

Prof. Steinbach: So sieht es im Moment aus. Erdogan hat eindeutig
erklärt, worauf er hinauswill: Er strebt eine präsidiale Demokratie
an. Bei den Parlamentswahlen 2015, die er möglicherweise sogar
vorziehen lässt, ist sein Ziel eine Zweidrittelmehrheit, die ihm die
Möglichkeit eröffnet, die Verfassung umzuschreiben. Bis dahin will er
die Möglichkeiten der jetzigen Verfassung ausreizen, um sich in die
Politik einzumischen. Damit dies gelingt, braucht er als künftigen
AKP-Parteichef - den Posten muss er als Präsident aufgeben - und als
Ministerpräsidenten lediglich Ja-Sager. Und ob ihm dies gelingt, da
muss man ein Fragezeichen setzen. Ist die AKP wirklich bereit, an
einer Verfassung mitzuarbeiten, die ein präsidiales System begründet
und also ihre Macht schmälert? In den zwei, drei Jahren, die die
Verfassungsdiskussion mittlerweile dauert, haben wir aus der AKP auch
schon kritische Stimmen gehört.

Verzeihen die konservativen Schichten, denen Erdogan eine
Identität gab, ihm jeglichen Korruptionsskandal?

Prof. Steinbach: Ja, weil Erdogan aufkommende Irritationen
geschickt auffing, indem er einen Gegenangriff startete. Sein
Erklärungsmodell verfing, wonach Kritik nur von Kräften geäußert
wurde, die vom Ausland gesteuert wurden - etwa der Hizmet-Bewegung
des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Auch aus dieser
Motivation heraus kann ein autokratischer Regierungsstil begründet
werden. Sollte Erdogan zur Demokratie und zur Gewaltenteilung
zurückkehren, muss er befürchten, dass die Korruptionsvorwürfe gegen
seine Familie wieder auf die Tagesordnung kommen. Und das ist für
Erdogan wirklich gefährlich, der sein Charisma auf dem
Erscheinungsbild eines frommen Muslim begründet. Sollte sich
erweisen, dass unter dem Schutz dieses Charismas eine Korruption
erblühte, wie es sie in diesem Ausmaß in der Türkei wahrscheinlich
noch nicht gegeben hat, wäre das ein furchtbarer Schlag für alle
Kräfte, die versuchen, die Religion für ihre Zwecke zu
instrumentalisieren.

Übersteht Erdogan auch eine mögliches wirtschaftliches Schwächeln
des anatolischen Tigers?

Prof. Steinbach: Das Schwierigste hat er hinter sich. Nach seinem
Wahlsieg hat er erst mal fünf Jahre Zeit. Vielleicht nutzt er das
Momentum der Präsidentschaftswahlen sogar noch aus, um schnell
hinterhergeschobene Parlamentswahlen auch noch haushoch zu gewinnen.

Erdogans bleibendes Verdienst ist es, die Generäle in die Kasernen
zurückgedrängt zu haben. Wird er bei Frauen das Kopftuch zur neuen
Uniform erheben?

Prof. Steinbach: Nein, das wird er nicht tun. Aber er wird
empfehlen, dass sich dieses gehört. Dass die führenden Vertreter der
AKP gerne moralische Ratschläge erteilen, sogar bis zum Rand des
Lächerlichen, hat jüngst Vize-Regierungschef Bülent Arinc bewiesen,
der den Frauen nahelegte, in der Öffentlichkeit nicht mehr zu lachen,
weil das nicht schicklich sei. Von Erdogan ist ein ständiger Appell
an seine Landsleute zu erwarten, ihr eigenes Selbstverständnis mit
seinem Leitbild eines guten Muslims in Einklang zu bringen.

Wird sich die Türkei bald auch aus dem Vorzimmer der EU
verabschieden?

Prof. Steinbach: Das vielleicht nicht. Aber sie wird auf dem Weg
vom Vorzimmer in die gute Stube keinen Schritt vorankommen. Die EU
wird das Problem haben, mit einem Staatspräsidenten Erdogan
verhandeln zu müssen, dessen Taten und Gedanken absolut inkompatibel
sind mit Geist und Buchstaben dessen, worauf sich die Europäische
Union beruft. Dennoch bleibt die Türkei ein Partnerland in einem
extrem sensiblen, derzeit völlig chaotischen geografischen Raum.
Selbst wenn beide Seiten die Distanz zwischen der Türkei und Europa
nicht verringern wollen, sind sie doch gehalten, eine pragmatische
Beziehung zu formen. Die Türkei ist als Sicherheitspartner an der
Grenze zu einer Region, die vollständig im Umbruch begriffen ist,
unverzichtbar. Dieser Stellenwert des südöstlichen NATO-Mitglieds
bleibt auch für Europa sehr hoch.

Im Zuge der Islamistenoffensive in Syrien, dem Irak und dem
Libanon wächst die Bedeutung der Kurden. Wie wird Ankara mit dem
möglicherweise entstehenden kurdischen Staat im Irak umgehen?

Prof. Steinbach: Bevor sich diese Frage stellt, muss Erdogan
zunächst die Frage beantworten, wie er mit den Kurden im eigenen Land
umgeht. Kommt es zu einer Lösung der kurdischen Frage innerhalb der
Türkei, wäre Erdogan deutlich entspannter mit Blick auf eine
kurdische Staatlichkeit im benachbarten Irak. Gelingt dies nicht,
weil die Kurden nicht als vollwertige türkische Bürger behandelt
werden und die PKK ihre militärische Kampagne gegen Ankara fortsetzt,
bleibt jeder kurdische Staat in der Nachbarschaft suspekt, egal, ob
er sich in Syrien oder im Irak bildet. Wir werden relativ schnell
sehen, wie ernst der neue türkische Präsident die kurdische Frage
nimmt. Ich glaube, er wird den Kurden weit entgegenkommen. Schon
allein, weil er für die Umgestaltung der Türkei zum präsidialen
System und für das Projekt "Türkei 2023" die Kurden braucht. Allein
wird die AKP keine Zweidrittelmehrheit erringen. Vermutlich geht der
innertürkische Friedensprozess weiter, dies wird eine entspannende
Wirkung haben auf die Beziehungen zu dem kurdischen Gebilde, das
möglicherweise entsteht.

Scheitert auf dem Weg zur "Türkei 2023" das historische Experiment
der Versöhnung von Demokratie und Koran?

Prof. Steinbach: Generell sind Koran und Demokratie nicht
unvereinbar. Gerade die ersten Regierungsjahre von Erdogan haben
gezeigt, dass man sehr wohl ein guter Muslim sein und sich zugleich
auf den Weg in ein demokratisches Europa machen kann. Sollte aber
Erdogan seine Agenda 2023 verwirklichen, ist nur noch eine
europäisch-türkische Koexistenz außerhalb des Rahmens der
Europäischen Union denkbar.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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