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Landeszeitung Lüneburg: "Wenn das Wunschkind zur Ware wird" - Interview mit dem Medizin-Ethiker Dr. Alfred Simon

Geschrieben am 07-08-2014

Lüneburg (ots) - "Gammy" machte vergangene Woche Schlagzeilen. Der
Junge mit einem Down-Syndrom war von seinen australischen Eltern bei
der Leihmutter in Thailand zurückgelassen worden. Sie hatten nur
dessen gesunde Zwillingsschwester mitgenommen. Das Paar verteidigte
sich, es sei von einem schnellen Sterben des Jungen ausgegangen. Die
Empörung wurde angeheizt, als bekannt wurde, dass der Vater ein
verurteilter Pädophiler ist. Stellen uns die wachsenden Möglichkeiten
der Reproduktionsmedizin vor neue moralische Probleme? Dr. Alfred
Simon, Geschäftsführer der Göttinger Akademie für Ethik in der
Medizin, warnt vor allem vor den Folgen der kommerziellen
Leihmutterschaft: "Hier wird die Notlage von Frauen ausgenutzt."

Bestellt und nicht abgeholt: Weil ihr Sohn Trisomie 21 hat, ließ
ein australisches Paar ihn bei der Leihmutter in Thailand zurück.
Hinkt unser Rechtssystem den gewachsenen Möglichkeiten der
Reproduktionsmedizin hinterher?

Dr. Alfred Simon: Das sehe ich keinesfalls so. Tatsächlich besteht
bei der Regelung von Leihmutterschaft in Deutschland aber noch
erheblicher Diskussionsbedarf. Derzeit ist die Leihmutterschaft
hierzulande verboten, gegen Geld allerdings auch in Australien. Ohne
eine breite gesellschaftliche Debatte sollte diese Regelung in
Deutschland aber nicht geändert werden.

Wie im Fall "Gammy" leben Leihmütter oft in der Dritten Welt, die
Auftraggeber für Kinder in der Ersten. Teilt die teure
Reproduktionsmedizin die Welt erneut, weil der Markt entscheidet?

Dr. Simon: In der Tat ist vor allem die kommerzielle
Leihmutterschaft problematisch, die nur in wenigen Ländern zulässig
ist, etwa in Indien und den USA. Sie führt mit Sicherheit dazu, dass
auch in diesem Punkt die Welt in arm und reich geteilt wird.

Was bedeutet die künstliche Zeugung für die Ordnung der Familie,
wie sie seit etwa 1800 als idealtypisch gilt?

Dr. Simon: Die Frage lässt sich nicht einfach beantworten.
Leihmutterschaft selbst gibt es seit Jahrtausenden, denken Sie nur an
die Geschichte in der Bibel von Sarah und Abraham, in der die Sklavin
Hagar quasi als Leihmutter fungiert. Von daher hat die
Leihmutterschaft als solche nicht das Potenzial, überkommenene
Familienmodelle zu zerstören. Ethische Probleme sehe ich vor allem
mit der kommerziellen Leihmutterschaft, die Probleme aufwirft, auf
die die Gesellschaft derzeit noch nicht vorbereitet ist.

Lösen die neuen Möglichkeiten einer künstlichen Fortpflanzung
statt Freiheit einen krampfhaften Zwang zur Fortpflanzung aus?

Dr. Simon: Diese Diskussion läuft, seit es die Fortpflanzung im
Reagenzglas gibt. Sicherlich verlängern die neuen Möglichkeiten
einerseits die Zweifel und den Krampf von Paaren mit unerfülltem
Kinderwunsch. Andererseits muss man fragen, ob man den Paaren, die
ihren Elternwunsch auf diese Weise verwirklichen wollen, dieses
verbieten kann. Letztlich kann man dieses Spannungsverhältnis nur im
Einzelfall auflösen, indem man die betroffenen Paare gut berät und
aufklärt. Mit Verboten allein löst man keine Probleme.

Wäre es nicht oft sinnvoller, der Natur das letzte Wort zu
überlassen - etwa wenn bei einem Mann mit unzureichender
Spermienqualität der Arzt einfach die "fitteste" Samenzelle für die
Befruchtung unter dem Mikroskop aussucht? Die eigentlich vorgesehene
Auslesefunktion kann so nicht stattfinden.

Dr. Simon: Die Natur ist in diesem Zusammenhang ein schlechtes
Argument. Würden wir der Natur ihren Lauf lassen, würden wir auch an
grippalen Infekten sterben. Viele Errungenschaften der Medizin hebeln
die Wirkung der Natur aus, indem sie unsere natürlichen Defizite
ausgleichen.

Aber kann es im konkreten Fall, wie dem Beispiel, nicht fatal
enden, wenn das Paar dann ein krankes Kind bekommt?

Dr. Simon: Sicher kann das passieren, aber wollen Sie wegen
dieser theoretischen Möglichkeit dem Paar ein Kind verbieten? Einen
Qualitätscheck für potenzielle Eltern können Sie mit der gleichen
Begründung auf für Paare fordern, die sich auf natürliche Weise
fortpflanzen. Das wäre in jedem Fall in hohem Maße problematisch.

Theoretisch kann ein Kind fünf Eltern haben: Samenspender,
Eizellenspenderin, Leihmutter, die Eltern mit denen es lebt. Wird
sich das Konzept von Verwandtschaft radikal verändern?

Dr. Simon: Wir haben ja ohnehin schon erhebliche Veränderungen
bei den Familienmodellen. Neben die klassische Familie mit Vater,
Mutter, ein, zwei Kindern sind schon vielfältige andere Modelle
getreten. So haben wir Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Paare
mit Kindern und andere Familienformen. Sicherlich ändern die
Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin das Familienbild, aber die
Frage ist offen, ob das notwendigerweise negativ sein muss. Ich
selbst stehe der Leihmutterschaft extrem zurückhaltend gegenüber,
aber man sollte sich angesichts der verzweifelten Hoffnung mancher
Paare davor hüten, mit der Natur zu argumentieren, wenn man ihnen
diesen Wunsch verwehren will. Das wahre Problem ist das Austragen
eines fremden Kindes gegen Geld. Diese kommerzielle Variante führt
dazu, dass Frauen in Notlagen, arme Frauen in der Dritten Welt
ausgenutzt werden. Zudem fördert es eine Wahrnehmung des Kindes als
Ware, wie auch im Fall "Gammy". Hier haben sich Eltern nicht auf ein
entstehendes Kind eingelassen, denn das würde die Möglichkeit
einschließen, dass es auch behindert zur Welt kommen kann. Hier wurde
ein Kind bestellt mit der Erwartung, dass qualitativ hochwertige Ware
geliefert wird.

Um das noch weiterzudrehen: Eltern haben schon "Ersatzteilbabys"
für ihre kranken Erstgeborenen gezeugt. Im angelsächsischen Raum wird
bei der Präimplantationsdiagnostik nicht nur nach Erbkrankheiten
gefahndet, sondern auch der Elternwille nach dem Wunschgeschlecht
berücksichtigt. Sind wir überfordert mit den neuen Möglichkeiten oder
hinken wir mit der Moral nur hinterher?

Dr. Simon: Auch die "Rettergeschwister" muss man differenziert
betrachten. Sofern die Eltern ohnehin den Wunsch nach einem weiteren
Kind haben, ist es nicht verwerflich, dass man auf bestimmte
Gewebemerkmale achtet, damit das Neugeborene über das Nabelschnurblut
dem Geschwister helfen kann. Problematisch ist es, wenn das Kind nur
zur Welt kommt, um ein anderes zu retten. Wenn dann die
Nabelschnurblutspende nicht reicht, greift man auf andere Stammzellen
zurück - ein Weg, der zum menschlichen Ersatzteillager führt. Es darf
nicht sein, dass das zweite Kind instrumentalisiert wird.

Wie kann man da eine klare Grenze ziehen?

Dr. Simon: Das funktioniert nur auf mehreren Ebenen. Zum einen
müssen wir auf gesellschaftlicher Ebene eine Diskussion führen, ob
wir solche Technologien mit ihrem Nutzen, aber auch ihren Gefahren
wollen. Aber selbst wenn man derartige Technologien zulässt, heißt
das ja nicht, dass man sie automatisch anwendet. Hier ist die
umfassende Beratung des konkreten Paares entscheidend. Den kritischen
Umgang mit den neuen Möglichkeiten kann man nur über ein Höchstmaß an
Information erreichen.

Hinken wir mit dieser Diskussion nicht gewaltig hinterher?

Dr. Simon: Das glaube ich nicht. Wir haben ein sehr strenges
Gesetz, vieles, was in anderen Ländern erlaubt ist - wie
Leihmutterschaft und Eizellenspende -, bleibt hier verboten. Anhand
konkreter Fälle wie des Schicksals des Jungen "Gammy" muss diskutiert
werden, ob wir mit unserem strengen Recht sogar fördern, dass Paare
in die Dritte Welt ausweichen, um sich dort Leihmütter einzukaufen.
Würde eine liberale Haltung hier Missstände verhindern oder wollen
wir Leihmutterschaft per se nicht zulassen?

Dass Deutschland in der Reproduktionsmedizin ein restriktives
Recht besitzt, liegt auch am eugenischen Höherzüchtungsprogramm der
Nationalsozialisten. Ist die Furcht vor dem gezüchteten Retortenbaby
aus den 80er-Jahren mittlerweile der Freude über die Chance aufs
Wunschkind gewichen? Erleben wir eine Normalisierung?

Dr. Simon: Ja, die Länder, in denen die
Präimplantationsdiagnostik erlaubt ist, sind nicht auf dem Weg,
"Designer-Babys" zu erlauben. Die Debatte hat sich entideologisiert.
Gleichwohl muss man nicht alles machen, was möglich ist.

Möglich ist, dass ein Kind zwei Mütter hat - etwa wenn Zellkern
und Eizelle von zwei verschiedenen Frauen stammen. Wäre das ein
Punkt, wo Sie eine Grenze ziehen würden?

Dr. Simon: Ich würde eher abwarten, ob 1. die Nachfrage nach
dieser Möglichkeit überhaupt nennenswert groß wird, und 2. ob die
Beziehungen des Kindes zu den beiden "Müttern" als problematisch
einzustufen sind. Wir haben in diesen Bereichen wenig Erfahrungen.
Würden einzelne Konstellationen der Leihmutterschaft liberalisiert,
würde man Erfahrungen sammeln, auf deren Basis man eine Grenze ziehen
kann.

Demnach wären Erfahrungen wichtiger als Vorab-Überlegungen des
Ethikrates?

Dr. Simon: Nein. Selbstverständlich muss der Ethikrat in diesem
konkreten Fall zur Leihmutterschaft vorab eine Linie vorgeben. Aber
man sollte immer überprüfen, ob die Vorbehalte angesichts eigener
Erfahrungen und denen anderer Länder noch haltbar sind. Dabei muss
überprüft werden, wie die Auswirkungen auf die Familienstruktur und
vor allem auf das Eltern-Kind-Verhältnis sind. Gibt es Hinweise
darauf, dass Kinder, die auf diese Weise zur Welt gekommen sind,
Nachteile haben? Möglicher-, aber nicht notwendigerweise kommt man
dann irgendwann zu dem Schluss, dass ein so strenges Verbot der
Leihmutterschaft nicht mehr sinnvoll ist. Vielleicht öffnen wir uns
ein wenig zur altruistischen, also nicht kommerziellen
Leihmutterschaft.

Gibt es Erfahrungen aus den USA mit der altruistischen
Leihmutterschaft, in denen zum Beispiel die Oma als Leihmutter
fungiert? Etwa über unscharf werdende Verwandtschaftsbeziehungen?

Dr. Simon: Es gibt Studien, die zeigen, dass weniger Spannungen
bei der altruistischen Leihmutterschaft zu verzeichnen waren, wenn
die Leihmutter nicht zu den leiblichen Verwandten zählte. Negative
Auswirkungen für die Kinder oder für das Eltern-Kind-Verhältnis
konnten nicht festgestellt werden.

Jede vierzigste Geburt ist in Deutschland auch Ergebnis von
assistierter Empfängnis. Entkoppelt sich die Zeugung auf Dauer
komplett vom Sex?

Dr. Simon: Ich hoffe nicht.

Das Interview führte

Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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