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Landeszeitung Lüneburg: "Krise ist ein Prüfstein für die EU" / Roderich Kiesewetter (CDU) plädiert für spürbare Sanktionen und die Entsendung einer Blauhelmmission

Geschrieben am 24-07-2014

Lüneburg (ots) - Die Propagandaschlacht um die Verantwortung für
den mutmaßlichen Abschuss der Malaysia-Airlines-Maschine MH17 tobt
unvermindert heftig. Schon gibt es Warnungen, dass 7/17 für das
europäisch-russische Verhältnis das werden könnte, was 9/11 für das
Verhältnis zwischen den USA und der muslimischen Welt ist: die Wurzel
eines irreparablen Zerwürfnisses. Roderich Kiesewetter, der
sicherheitspolitische Experte der Unionsbundestagsfraktion, hofft,
dass in Moskau schnell wieder Vernunft einkehrt. Er plädiert für
Sanktionen und eine UN-Blauhelmmission in der Ostukraine - "auch mit
deutscher Beteiligung".

Wie kann Putin von seinem Destabilisierungskurs in der Ost-Ukraine
abgebracht werden?

Roderich Kiesewetter: Das ist die entscheidende Frage. Denn
Russland hat ein großes strategisches Interesse daran, einerseits den
Zusammenhalt der Europäischen Union zu gefährden und andererseits der
Ukraine die Wahlfreiheit zu nehmen, ob das Land künftig einen
eigenständigen Kurs verfolgt, ob es sich der EU annähert oder dem von
Moskau dominierten Wirtschaftsbündnis. Hier ist Diplomatie gefragt,
die in Kombination mit Sanktionen den Kreml an den Verhandlungstisch
zwingt. Ziel muss sein, dass die Ukraine in freier Selbstbestimmung
über ihre Zukunft entscheiden kann.

Allenthalben wird Moskau eine Mitverantwortung für den Abschuss
aufgebürdet. Hat der Kreml die Separatisten überhaupt noch im Griff?

Kiesewetter: Wir müssen zunächst die Untersuchungen abwarten. Nach
neuesten Meldungen soll die Rakete sogar von russischem Boden
abgeschossen worden sein. Wir brauchen eine unabhängige Kommission,
die das aufklärt. Putin selbst präsentiert sich gerne als führungs-
und durchsetzungsstark. Wir haben ganz hohe Erwartungen an ihn, dass
er diese Eigenschaften nun beweist, indem er die Separatisten dazu
bringt, ihren blutigen Terror einzustellen.

Wie gesichert sind die Infos, dass russische Spezialisten die
Separatisten trainieren und mit schwerem Gerät versorgen?

Kiesewetter: Es ist gesichert, dass in der Vorwoche des Abschusses
schwere russische Ausrüstung - Artillerie, Panzer und
Boden-Luft-Raketen - geliefert wurde und dass diese von Ausbildern
begleitet worden ist. Russland will die Separatisten aufrüsten. In
der Folge wird es zu einer neuen Qualität des Kampfes kommen. Diese
Unterstützung muss Moskau schnell einstellen.

Sie haben bereits bei unserem Gespräch im März 2014 für härtere
Sanktionen plädiert. Auf was wartet Europa noch, um wirklich
schmerzhafte Sanktionen zu verhängen?

Kiesewetter: Putins Ziel ist es, die 28 EU-Staaten zu spalten.
Deshalb war es ein gutes Zeichen, dass die EU in dieser Woche
klargemacht hat, dass keine Rüstungsgüter mehr nach Russland
geliefert werden. Und ich hoffe, dass die Sanktionen auch dahingehen
werden, dass keine Dual-Use-Güter, also sowohl zivil als auch
militärisch zu nutzende Güter, mehr geliefert werden. Diese Krise ist
ein Prüfstein für die Handlungsfähigkeit der Union. Es gilt, schnell
alle vakanten EU-Führungspositionen zu besetzen, um außen- und
sicherheitspolitisch handlungsfähig zu bleiben. Sanktionen wären ein
starkes Signal der Einigkeit. Zudem dauert es, bis sie wirksam
werden. Russland hätte also noch die Möglichkeit, einzulenken, bevor
wirtschaftlicher Schaden entsteht.

Im Oktober soll Frankreich eigentlich einen Hubschrauberträger an
Russland ausliefern. Sollte sich Europa bei Rüstungsgeschäften mit
dem Kreml mehr zurückhalten?

Kiesewetter: Europa müsste sich mit Rüstungsgeschäften generell
stärker auseinandersetzen. Es ist zu fragen: Wohin liefern wir? Was
geschieht dort mit den Waffen? Welche Partner in welchen
Krisengebieten unterstützen wir und wo unterlassen wir es? Seit dem
Gipfel in Prag 2007/2008 hat Russland den Status eines Partners.
Dieser Status ist seit der Krim- und der Ukrainekrise in Frage
gestellt.

Macht Deutschland genug, um sich aus der Abhängigkeit von
russischem Gas zu lösen?

Kiesewetter: Das ist eine sehr wichtige Frage, die nur über einen
längeren Zeitraum befriedigend zu beantworten ist. Russland hat
verhindert, dass "South Stream" - also die Gaspipeline, die vom
Kaspischen Meer südlich von Russland bis nach Europa führen sollte -
zeitgerecht gebaut wird. Wir brauchen ein europäisches Erdgasnetz
ebenso wie ein Stromleitungsnetz, um überschüssigen Strom dorthin
transportieren zu können, wo er gebraucht wird. Desweiteren sollen
wir prüfen, wie wir die Energieversorgungsicherheit Europas ohne
Russland bewerkstelligen können. Das soll nicht heißen, dass wir
Russland nicht die Hand ausstrecken, wenn es seinen
Konfrontationskurs verlässt. Aber wir können es nicht durchgehen
lassen, dass Russland die östliche Peripherie der Europäischen Union
destabilisiert.

Wäre der Boomerang-Effekt für die deutsche Wirtschaft so groß, wie
Putin meint?

Kiesewetter: Der Boomerang-Effekt wäre groß, weil viele deutsche
Firmen nach Russland liefern - auch High Tech. Es hängen eine Menge
Arbeitsplätze vom Handel mit Russland ab. Hier wäre ein europäischer
Lastenausgleich denkbar, über den Umsatzausfälle von Firmen
überbrückt werden könnten. Aber angesichts Hunderter Toter in der
Ukraine ist auch die Wirtschaft aufgerufen, ihre Geschäfte zu
überdenken und ihre Fühler in andere Bereiche der Welt auszustrecken.
Wir dürfen uns nicht über unsere Handelsbeziehungen erpressen lassen.

Kiew hat die Teilmobilmachung angeordnet. Kann die schlecht
ausgerüstete ukrainische Armee die Separatisten militärisch besiegen?

Kiesewetter: Das war ein sehr schwerwiegendes Signal. Man hätte
andere Wege gehen müssen. Nun ist die internationale Gemeinschaft in
zwei Stufen gefordert: 1. die OSZE bei der Aufklärung des Absturzes
zu unterstützen und 2. eine Mission der Vereinten Nationen zu
verabreden, die verhindert, was eine Mobilmachung normalerweise
auslöst - einen Krieg. An einer Mission der Entwaffnung der
Separatisten und der räumlichen Trennung der Konfliktparteien ist
durchaus auch eine deutsche Beteiligung denkbar.

Kann Europa Kiew dabei helfen, die lange vernachlässigte
Ostukraine auch in den Herzen der Bewohner zurückzugewinnen?

Kiesewetter: Immer mehr ursprünglich russlandfreundliche Teile der
Bevölkerung sehen die Entwicklung mit wachsender Skepsis. Die meisten
russischsprachigen Ukrainer wollen nicht Teil Russlands werden.
Dementgegen sieht die russische Strategie vor, einen Korridor durch
das Land zu treiben, um die Ostukraine dem eigenen Einflussbereich
zuordnen zu können. Dieser Strategie müssen wir auch dadurch
begegnen, dass wir auf die Souveränität der Ukraine pochen, die
dieser 1994 auch von Russland garantiert wurde im Tausch gegen die
Vernichtung der eigenen Atomwaffen. Eine Teilung der Ukraine wäre
verheerend - auch weil es uns dann nur schwer gelingen dürfte, andere
Staaten zum Verzicht auf Massenvernichtungswaffen zu bewegen. Der
Irak hat in den 90-er Jahren seine Massenvernichtungswaffen abgegeben
- und ist heute destabilisiert und ohne anerkannte Führung. Libyen
vernichtete in den letzten Jahren seine Chemiewaffen - und ist heute
destabilisiert und ohne Führung. Wie wollen wir den Iran überzeugen,
sein militärisches Nuklearprogramm einzustellen angesichts einer
derartigen Perspektive? Also muss uns an der staatlichen Souveränität
der Ukraine gelegen sein. Das gelingt aber nur, wenn ein
Demokratisierungsprozess angeschoben werden kann. Wenn wir in der
Bevölkerung kein Interesse am Aufbau einer Demokratie wecken können,
werden wir einen Staatszerfall erleben. Voraussetzung dafür ist eine
Stabilisierung der Lage durch eine Mission, die die Konfliktparteien
trennt.

Kämpfer ohne Hoheitsabszeichen in der Ukraine, US-Söldnerfirmen im
Irak: Lagern Großmächte die Kriegführung immer häufiger aus?

Kiesewetter: Die Privatisierung von Sicherheit ist eine der großen
Herausforderungen der Sicherheitspolitik. Staatliche Gewalt sucht
sich Stellvertreter. Das ist demokratisch nicht legitimierbar. Wir
erleben global agierende Konzerne, die sich eigene
Sicherheitsstrukturen schaffen. Wir erleben Staaten, die ihre eigenen
Streitkräfte verkleinern und stattdessen globale Sicherheitskonzerne
beauftragen. Hier brauchen wir eine UN-Übereinkunft, die derartiges
Verhalten verurteilt. Legitimität von Gewalt sollte immer an
staatliche Gewalt geknüpft sein und nicht in die Hände von
Privatfirmen oder Freischärlern wie jetzt in der Ukraine gelegt
werden. Diesen Trend müssen wir im aufgeklärten Abendland umkehren.

Moskau selbst sieht sich offenbar auf einem Sonderweg abseits des
Abendlandes. Müssen wir uns von dem Sonntagsreden-Bild des
europäischen Hauses inclusive Russlands verabschieden?

Kiesewetter: Wir haben die Chance, die in den Angeboten Medwedews
lag, damals nicht zu Ende gedacht. Wenn Russland hoffentlich bald
wieder zu einer zivilisierten Außenpolitik zurückgefunden hat, müssen
wir diskutieren, wie wir auf europäischem Boden - zu dem Russland
zählt - miteinander umgehen. Wir brauchen einen Verhaltenskodex und
Sicherheitsgarantien, die eine solche Politik unmöglich machen. Jetzt
gilt es aber zunächst, die Ukraine zu stabilisieren und Russland
einen gesichtswahrenden Weg an den Verhandlungstisch aufzuzeigen.

Ein eroberungssüchtiger Zar im Osten, ein abhörwütiger Großer
Bruder im Westen. Ist es nicht überfällig für Europa, eine
selbstständige, "erwachsenere" Außenpolitik zu konzipieren?

Kiesewetter: Wir Europäer müssen uns intensiv über unsere
sicherheitspolitischen Interessen verständigen. Wir müssen angesichts
abschmelzender Verteidigungsetats enger kooperieren. Wir müssen die
Aufgaben festlegen, die wir gemeinsam lösen wollen. Wir müssen die
Regionen festlegen, in denen wir tätig sein wollen und die, in denen
wir dies nicht wollen. Wir müssen Instrumente der zivilen
Krisenprävention und militärischen Krisenbewältigung schmieden. Und
wir müssen die Bevölkerung überzeugen, dass wir mehr für Sicherheit
investieren müssen. Europa kann dennoch ohne die USA seine Sicherheit
nicht gewährleisten. Also muss auch das transatlantische Verhältnis
neu definiert werden. Das erreichen wir auch über Reformen in der EU.
Die nächsten fünf Jahre werden entscheidend sein, ob die EU ein
glaubwürdiger Akteur wird, der Friedenspolitik macht, die militärisch
abgesichert ist, oder ob die EU ein beliebiger Spielball von Mächten
außerhalb Europas wird.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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