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Landeszeitung Lüneburg: Legitimation durch die UNO nötig / Jürgen Trittin: Optionen im Syrien-Konflikt erst nach erfolgreicher Aufklärungsmission umsetzen

Geschrieben am 29-08-2013

Lüneburg (ots) - Die jüngste Meinungsumfrage sah die Grünen auf
einem Zweijahrestief. Doch Jürgen Trittin (59) hält Kurs. "Ein
Veggie-Tag ist doch was Feines", sagt der Grünen-Fraktionschef.
Steuererhöhungen? "Unsere Wähler stimmen nicht mit dem Portemonnaie
ab, werden außerdem meist entlastet." Syrien-Krise? Eine Intervention
würde den Bürgerkrieg ausweiten. "Die Entscheidung muss die UNO
treffen."

In Paris und Washington erklingen Kriegstrommeln. Läuft der Westen
Gefahr, sich nach Afghanistan und Irak in das nächste militärische
Abenteuer mit geringen Erfolgsaussichten zu stürzen?

Jürgen Trittin: Es sind erschütternde Bilder, die uns aus Syrien
erreichen. Sollte sich tatsächlich bestätigen, dass Giftgas
eingesetzt wurde, wäre das ein entsetzliches Verbrechen, das von der
internationalen Gemeinschaft nicht toleriert werden kann.
Entscheidend ist, dass die UN-Inspekteure nun Klarheit schaffen.
Daher steht Angela Kane, die UN-Bevollmächtigte, vor einer sehr
verantwortungsvollen Aufgabe. Sämtliche Optionen können nur auf der
Basis gesicherter Informationen umgesetzt werden. Mögliche
Konsequenzen bedürfen in jedem Fall einer Legitimation durch die
Vereinten Nationen.

Es erscheint schwer vorstellbar, dass Assad so dumm ist, einen
Chemieangriff zu befehlen, während UN-Inspektoren im Land sind.
Besteht die Möglichkeit, dass der Westen sich zur Luftwaffe der
Rebellen umfunktionieren lässt?

Trittin: Man kann jetzt viel spekulieren, das hilft aber nicht
weiter. Umso wichtiger ist, dass die UN-Aufklärungsmission unter
Angela Kane, die ich sehr schätze, ein Erfolg wird.

Oskar Lafontaine sagte 1990 ehrlich im Wahlkampf, dass die
deutsche Einheit jeden Bürger etwas kosten würde - und wurde
abgestraft. Wieso spielen Sie va banque mit der Ankündigung von
Steuererhöhungen?

Trittin: Wir spielen nicht va banque. Wir wollen für 90 Prozent
der Steuerzahler die Steuern senken. Die Bürger haben in den
vergangenen vier Jahren unter Schwarz-Gelb gelernt, Versprechungen zu
misstrauen, die nicht finanziell gedeckt sind. Also wollen wir eine
Entlastung für die große Mehrheit der Menschen über eine Anhebung des
Steuerfreibetrages, die natürlich gegenfinanziert werden muss. Also
müssen sieben bis zehn Prozent der Steuerpflichtigen einen leicht
erhöhten Steuersatz zahlen. Da gehen wir maßvoll vor.

Der Bund der Steuerzahler sieht in Familien mit 80000 Euro brutto
Mittelschicht und keine Spitzenverdiener. Rücken die Grünen nach
links?

Trittin: Der Bund der Steuerzahler hat in seinen eigenen
Berechnungen festgestellt, dass unsere Aussage zutrifft, wonach 90
Prozent der Bürger entlastet werden. Also kann man mit 80.000 Euro zu
versteuerndem Einkommen, bei Ehepaaren sind das 160.000, schwerlich
zur Mittelschicht zählen.

Zur Kasse bitten die Grünen die Gutverdienenden auch bei der
Bürgerversicherung. Haben Sie keine Sorge, dass gerade ihre Klientel
sie abstraft?

Trittin: Erstens wollen wir die Krankenkassenbeiträge um 1,5
Prozent senken, das heißt, alle werden weniger bezahlen. Im Gegenzug
wird dann die Beitragsbemessungsgrenze, also die Einkommensgrenze bis
zu der Mitglieder Beitrag zahlen müssen, von jetzt 3937 Euro auf 5500
Euro im Monat angehoben. Entlastend bleibt es bei der Abschaffung der
Praxisgebühr, Zuzahlungen auf Arzneien werden gestrichen. So wird
auch bei Bürgerversicherung die übergroße Mehrheit entlastet. Und zur
Frage nach unserer Wählerschaft: Nach einer jüngsten Studie der FAZ
hat der durchschnittliche Grünen-Wähler ein Netto-Einkommen von 2400
Euro. Das wären rund 50.000 brutto im Jahr. Demnach wird der
durchschnittliche Grünen-Wähler durch unsere Steuerpläne entlastet.
Zudem stimmen unsere Wähler nicht mit dem Portemonnaie ab. Von
wirklich Besserverdienenden höre ich oft Zustimmung zu unseren
Plänen, weil sie sagen, von besserer Kinderbetreuung und Bildung
profitiere ich auch. Die meisten Menschen empfinden unser Konzept als
solidarisch, aber auch solide. Demgegenüber hat die Bundeskanzlerin
in ihrer achtjährigen Regierungszeit die gesamtstaatliche
Verschuldung um 500 Milliarden Euro nach oben getrieben, also
immerhin um mehr als ein Fünftel sämtlicher Schulden, die wir in der
Geschichte der Bundesrepublik aufgehäuft haben. Dass es so nicht
weitergehen kann, gerade mit Blick auf die eigenen Kinder, weiß doch
jeder. Die Zeit der Zusagen auf Pump ist vorbei.

Derzeit erntet Deutschland die Erfolge, die Rot-Grün mit der
Agenda 2010 gesät hat. Wieso schämen sich die Grünen dieser Reform?

Trittin: Tun wir doch nicht. Die Zusammenführung von Arbeitslosen-
und Sozialhilfe zu einer neuen Form der Grundsicherung ist nach wie
vor prinzipiell richtig. Es gibt jetzt einen Anspruch auf
Arbeitsförderung für alle. Diese Erfolge brauchen wir nicht
verstecken - unbeschadet eines Korrekturbedarfes bei anderen,
problematischen Punkten. So gibt es einen Trend hin zu prekären
Arbeitsverhältnissen, weil der alte Grundsatz "Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit" bei der Zeitarbeit nicht mehr gilt. Weil wir Grünen
das damals bereits befürchteten, hatten wir schon 2004 einen
gesetzlichen Mindestlohn gefordert. Der ausgeuferte
Niedriglohnbereich, der nicht die Basis der verbesserten
Wettbewerbssituation Deutschlands ist, muss zurückgestutzt werden.
Acht Millionen Menschen mit Minilöhnen sind prozentual mehr als in
den USA. Wir brauchen also einen gesetzlichen Mindestlohn und wir
müssen Zeit- und Leiharbeiter gleich stellen, sowie die Auslagerung
in Werkverträge erschweren.

Gerechtigkeit ist nicht nur ein nationales Thema. Muss Deutschland
Wohlstand teilen, um der verlorenen Generation in den südeuropäischen
Ländern eine Perspektive zu geben?

Trittin: Das liegt in Deutschlands ureigenstem Interesse. Die
Krise in den südeuropäischen Ländern rückt immer näher, wie die
Probleme der Stahlwerke Peine Salzgitter gerade deutlich machen. Nur,
wenn im Süden wieder investiert wird, gibt es dort auch Menschen, die
wieder Steuern zahlen. Diese Länder haben schon lange kein
Ausgabenproblem mehr, sondern ein Einnahmeproblem. Wir dürfen nicht
nur aufs Sparen setzen, sondern müssen uns auch um Investitionen
kümmern. Sonst werden sich die Südländer nicht aus der Krise befreien
können, vielmehr kommt die Krise dann über Frankreich auch zu uns.

Wie groß ist die Gefahr, dass sich Deutschland auf seinen Erfolgen
ausruht und den nächsten Reformsprung raus aus der
Kohlenstoffwirtschaft oder auch raus aus der Wachstumsgesellschaft
versäumt?

Trittin: Das ist ein Teil des Streites, den wir mit dieser
Regierung führen. Das Kabinett Merkel hat eigentlich nur einen
Maßstab: das Wachstum des Bruttosozialproduktes. Seit vier
Jahrzehnten sinken in den entwickelten Ländern diese Wachstumsraten
aber stetig. In Deutschland lässt sich jetzt beobachten, was
passiert, wenn man Wachstumsimpulse setzt, ohne sie mit einer
Strategie für eine verbesserte Energieeffizienz zu verknüpfen: Zum
ersten Mal seit 20 Jahren steigen in Deutschland die
Treibhausgasemissionen. Vor allem, weil das Kabinett Merkel den
Emissionshandel hat kaputt gehen lassen. Deswegen explodiert die
Kohlestromproduktion. Widersinniger geht es nicht mehr: Wir haben so
viel Strom aus regenerativen Quellen wie nie zuvor und dennoch wurde
nicht ein Braunkohlekraftwerk abgeschaltet. Dieser überflüssige Strom
wird etwa in den Niederlanden verramscht, die Differenz müssen die
Konsumenten tragen.

Windparks ohne Anbindung ans Netz, steigende Strompreise auch
wegen des Solarbooms - muss bei der Energiewende umgesteuert werden?

Trittin: Schwarz-Gelb hat die Energiewende vorsätzlich gegen die
Wand gefahren. Im Windpark "Riffgat" vor Borkum müssen die Räder mit
Diesel angetrieben werden, damit sie nicht rosten, weil sie nicht ans
Netz angeschlossen werden können. Das ist ein persönliches Verdienst
von Philipp Rösler. Der hat als Landesminister die Trasse angeordnet
und er hat als Bundesminister nicht dafür Sorge getragen, dass
diejenigen, die das Netz betreiben, auch zu solchen Investitionen in
der Lage sind. Er hat deren Versagen ohne alle Konsequenzen
hingenommen, weil ja ohnehin für drei Jahre der Stromkunde für die
Kosten aufkommt. Vor Borkum ist der ganze Irrsinn der Energiepolitik
von Schwarz-Gelb auf den Punkt gebracht. Gleichwohl besteht die
Pflicht, Kosten zu begrenzen. Dies geschieht am besten durch den
Abbau von Subventionen, etwa für die Agrarindustrie bei der
EEG-Umlage. Umweltminister Altmaier will doch nicht wirklich den
Strompreis senken. Er geht nicht an die Subventionen ran oder an die
Folgen des Kohlebooms, sondern nur an den kleinsten Fördertopf - den
für die Erneuerbaren.

In Washington gilt Deutschland als "Partner dritter Klasse", den
Diensten sogar als "legitimes Angriffsziel". Ist die Besatzungszeit
doch nicht vorbei?

Trittin: Zumindest verhält sich die Bundesregierung so, als hätte
sie es mit einem großen Bruder zu tun. Bundesinnenminister Friedrich
hat sich beim US-Vizepräsidenten Biden nicht mal getraut, eine
kritische Frage zu den NSA-Abhörmethoden zu stellen. Und
Kanzleramtsminister Pofalla verstieg sich zu der Ansicht, wenn die
NSA sage, nicht spioniert zu haben, dann hätten sie es auch nicht
getan. Warum er anschließend dennoch ein No-spy-Abkommen auf den Weg
bringen will, erschließt sich mir dann aber nicht.

Tragen Washington und London den Spaltpilz in das NATO-Bündnis?

Trittin: Würde die Merkel-Regierung mit einem normalen
Selbstbewusstsein auftreten, würde man von Washington auch anders
behandelt werden. Rot-Grün hatte ja durchaus bei der Klimapolitik und
dem Irak-Krieg klare Kante gezeigt, ohne dass dies der
deutsch-amerikanischen Freundschaft geschadet hätte.

Muss der Datenschutz gesondert geregelt werden, bevor man eine
Freihandelszone auf Kiel legt?

Trittin: Man muss sicherstellen, dass die Datenschutzstandards,
die in Europa gelten, auch von den Amerikanern befolgt werden.

Bei der Endlagersuche wurde alles auf Anfang gestellt. Dennoch
murren die Atomkraftgegner. Sind Sie es nicht leid, immer
Maximalerwartungen gerecht werden zu müssen?

Trittin: Nein, ohne den gesellschaftlichen Druck würde sich in
diesen Fragen nichts bewegen. Aber es ist schon ein großartiger
Erfolg der Grünen, der noch kleinsten Oppositionspartei im Bundestag,
diesen Gesetzentwurf zu einem Allparteienkompromiss geführt zu haben
- auch wenn es zehn Jahre gedauert hat.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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