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Landeszeitung Lüneburg: Datenschutz ist der neue Umweltschutz / Frank-Walter Steinmeier (SPD): Debatte beginnt erst - USA haben aus Abhör-Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt

Geschrieben am 15-08-2013

Lüneburg (ots) - Erst wurde er von den Regierungsparteien
vorgeladen, dann wieder ausgeladen. Frank-Walter Steinmeier geriet in
der vergangenen Woche ins Zentrum der NSA-Affäre, weil der
SPD-Fraktionsschef 2002 als Kanzleramtsminister ein Abkommen über die
Zusammenarbeit von deutschen und amerikanischen Geheimdiensten
abschloss. Steinmeier: "Hier vermischt die Regierung etwas, um von
eigener Verantwortung abzulenken. Hier geht es um die lückenlose
Überwachung des privaten Internetverkehrs durch angelsächsische
Dienste."

Ist die NSA-Affäre beendet, wie ihr Nachfolger im Kanzleramt,
Ronald Pofalla, meint?

Frank-Walter Steinmeier: Das hätte er gern. Das passt zu dem
Versuch der Bundesregierung, von ihrer eigenen Verantwortung
abzulenken und die Schuld für die flächendeckende Ausspähung privater
Daten bei anderen zu suchen. Herr Pofalla wünscht sich jetzt, die
Debatte durch einen Presseauftritt beenden zu können. Ich glaube, wir
stehen erst am Beginn einer Debatte. Und die wird nicht allein in
Deutschland, sondern weltweit geführt werden. Denn die Zusicherungen,
die der amerikanische Geheimdienst gegeben hat, beziehen sich eben
nicht auf Daten, die von amerikanischen Servern abgezogen werden.

Wofür braucht man eigentlich ein No-spy-Abkommen, wenn angeblich
doch nur Auslandsgespräche abgefischt worden sein sollen?

Steinmeier: Zu den Ungeheuerlichkeiten, die an die Öffentlichkeit
gelangten, gehört auch, dass der amerikanische
Militärnachrichtendienst nicht Halt gemacht hat vor Botschaften
europäischer Partner und Vertretungen der EU in den USA. Ich fordere
seit langem, dass die USA sich wieder an den Grundsätzen orientieren,
deren Einhaltung uns Washington um die Jahrtausendwende nach dem
sogenannten "Echelon"-Skandal zugesichert hatte. Nämlich,
diplomatische Vertretungen befreundeter Staaten nicht auszuspähen.

Erst sollten Sie unbedingt vor den Geheimdienstkontrolleuren
aussagen, dann doch nicht. Verkommt die NSA-Affäre zum
Wahlkampfparolen-Steinbruch?

Steinmeier: Es war schon vorher zu spüren, dass die Regierung
versucht, sich verzweifelt aus ihrer Verantwortung zu stehlen und
Schuld bei einer Regierung abzuladen, die zwölf Jahre vor ihr agiert
hat. Ich war bereit, im Parlamentarischen Kontrollgremium zur
Aufklärung beizutragen, obwohl ich keine Einsicht in die Akten hatte.
Dass Union und FDP es trotzdem ablehnten, mich vor dem
parlamentarischen Kontrollgremium anzuhören, spricht für sich selbst.
Es geht beiden nicht um Aufklärung, sondern um die Fortsetzung von
Diffamierungen bis zum Wahltermin.

Sie schlossen die Vereinbarung zur Zusammenarbeit der
Geheimdienste 2002 unter dem unmittelbaren Eindruck von 9/11 ab.
Würden Sie sie aus heutiger Sicht anders gestalten?

Steinmeier: Es ging um zwei unterschiedliche Dinge, die beide
damals dringend notwendig waren. Erstens die Übernahme der
US-Abhörstation in Bad Aiblingen durch deutsche Behörden. Das wurde
bereits vor dem 11. September verhandelt. Bis dahin galt dort
amerikanisches Recht ohne deutsche Einflussmöglichkeit. Es musste
sichergestellt werden, dass die Zusammenarbeit von amerikanischen und
deutschen Diensten dort streng nach deutschem Recht erfolgt. Zweitens
ging es nach 9/11 um eine verbesserte Zusammenarbeit der Dienste bei
der Auslandsaufklärung, also außerhalb Deutschlands. Das war gar
nicht anders vorstellbar. Die USA hatten mehr als 3000 Opfer zu
beklagen. Die islamistischen Attentäter kamen aus Deutschland,
bereiteten ihre Anschläge in Hamburg vor. Es war auch unserer Sicht
notwendig, um uns selbst vor ähnlichen Anschlägen zu schützen. Nur,
so wichtig das alles war. Es hat nichts zu tun mit den
Abhörmaßnahmen, die von Herrn Snowden bekannt gemacht worden sind,
die ja nicht auf der Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden beruhen,
sondern ganz eigenständig von britischen und amerikanischen Diensten
durch lückenlose Überwachung privater Internetverkehre gewonnen
wurden. Was die Regierung dagegen zu tun gedenkt, hat sie uns bisher
nicht verraten.

Läuft die Weitergabe abgefischter Handydaten noch unter
Bündnistreue oder gerät man in Gefahr, Beihilfe zu Exekutionen durch
Drohnen zu leisten?

Steinmeier: Die Bundesregierung beruft sich darauf, dass die
Zieldatenbestimmung aus den Handydaten technisch nicht möglich sei.

Laut Edward Snowden spionieren US-Dienste auch deutsche Bürger und
deutsche Firmen aus. Ist die Besatzungszeit doch noch nicht zu Ende?

Steinmeier: Was mich in der Tat ärgert, ist, dass wir innerhalb
eines guten Jahrzehnts dieselben Fragen zum zweiten Mal diskutieren.
In der "Echelon"-Affäre flog zur Jahrtausendwende auf, dass die USA,
Kanada, Großbritannien und Australien offenbar nicht nur die
vormaligen Warschauer-Pakt-Staaten ausgespäht hatten, sondern sogar
NATO-Bündnispartner. Das sorgte damals in Europa für Empörung,
letztendlich in den USA aber auch für die Erkenntnis, dass man so
nicht mit Freunden umgehen kann. Das mündete damals in die
Zusicherung, dass sich Ausspähaktionen nicht mehr auf Bündnispartner
beziehen werden. Umso ärgerlicher ist, dass wir nun Anlass haben zu
vermuten, dass dies zumindest in jüngerer Vergangenheit ignoriert
worden ist. Ich kann nur hoffen und erwarten, dass die jetzigen
Zusicherungen der Amerikaner ernst gemeint sind.

In Washington gilt Deutschland als "Partner dritter Klasse",
seinen Diensten sogar als legitimes "Angriffsziel". Schleppen die USA
den Spaltpilz in das westliche Bündnis?

Steinmeier: Nein, es gibt nicht nur dieses eine Amerika. Wer genau
hinschaut, stellt fest, dass die massenhafte Abschöpfung von Daten
auch in Amerika auf Empörung stößt. Insofern bin ich als jemand, der
Amerika ganz gut kennt und dort politische Freunde hat, ganz
zuversichtlich, dass die Freiheitsliebe der Amerikaner dafür sorgen
wird, dass "Big Brother" nicht Realität wird -- nicht im eigenen
Lande, aber auch nicht bei den Verbündeten.

Unterbindet das Wahlkampfgetöse die überfällige Debatte darüber,
wie viel Freiheit wir zugunsten der Sicherheit opfern wollen?

Steinmeier: Für mich ist diese Frage nicht künstlich und hat auch
nichts mit Wahlkampf zu tun. Ich habe sie in ihrer harten Realität
erfahren müssen. Es gab Tage an denen auch wir befürchten mussten,
Opfer von islamistischen Anschlägen zu werden. Ich kann mich gut an
die fast an Hysterie grenzende Angst erinnern, als Anthrax-Päckchen
durch die Republik geschickt wurden und in Post-Stellen von Behörden
und Ämtern ankamen. Dann löste der Diebstahl von Pocken-Viren
weltweit Ängste aus, dass die nächste terroristische Stufe ein
biologischer Angriff sein könnte. Damals wurde der Ruf nach
strafrechtlichen Verschärfungen, einer Veränderung der Prozessordnung
und härtesten Sicherheitsmaßnahmen lauter. Rückblickend bin ich der
Meinung, dass wir trotz näher rückender terroristischer Bedrohung
durch die Anschläge in London und Madrid, trotz deutscher Opfer auf
Bali und in Casablanca die manchmal schwierige Balance zwischen
Sicherheit auf der einen Seite und Freiheit auf der anderen gehalten
haben. Wir haben die Zivilität unserer Gesellschaft bewahrt, und das
ist nicht wenig.

Hätten Sie sich von der Kanzlerin als ehemaliger DDR-Bürgerin eine
härtere Reaktion auf die Ausspähung Deutschlands erwartet?

Steinmeier: Ich kenne eigentlich gar keine Reaktion von ihr. Wie
in so vielen anderen Fällen hat sie sich weggeduckt und überforderten
Ministern die öffentlichen Auftritte überlassen. Innenminister
Friedrich ist dazu zunächst nichts anderes eingefallen, als über
Anti-Amerikanismus zu schwafeln. Kanzleramtsminister Pofalla ist auch
in der siebten Woche noch ohne jede Antwort. Er hat so dazu
beigetragen, dass in der Debatte keine Klarheit herrscht, sondern
alles mit allem vermischt wurde, nur, um von eigener Verantwortung
abzulenken. Von Merkel gibt es bisher kein kritisches Wort zu
Ausspähpraktiken, an die wir uns aus rechtsstaatlicher Räson nicht
gewöhnen dürfen. Vor kurzem schrieb jemand, Datenschutz sei unter den
neuen technologischen Bedingungen des Internets der Umweltschutz des
21. Jahrhunderts -- eine Riesenaufgabe. Wer sich jetzt hinstellt und
behauptet, es gäbe gar kein Problem, versagt vor dieser großen
Aufgabe.

Günter Grass attackierte jüngst Merkels Prägung in der DDR. Wie
bewerten sie den Umgang der Kanzlerin mit ihrer eigenen
Vergangenheit?

Steinmeier: Ich habe 2009 als Spitzenkandidat der SPD gegen die
Kanzlerin Wahlkampf geführt, schon damals war aus meiner Sicht alles
zu ihrer persönlichen Geschichte bekannt. Ich sehe dazu nichts Neues
und habe daher keine Veranlassung, dies zum Gegenstand der
politischen Auseinandersetzung zu machen.

Trotz aller Körbe umwirbt Gregor Gysi die SPD unverdrossen...

Steinmeier: ...das ist wohl wahr!...

...laut Peer Steinbrück ist Rot-rot-grün aber nur eine Option für
die Zukunft, keine für die Gegenwart. Warum eigentlich?

Steinmeier: Solche Debatten kommen zustande, weil wir tatsächlich
ein auffälliges Werben der Linkspartei um die SPD sehen. Zudem werden
Koalitionen allzu oft als bloßes Rechenexempel begriffen. Wer so
denkt, springt zu kurz. Weil Koalitionen politisch funktionieren
müssen. Und diese Frage stellt sich hinsichtlich der Linkspartei mit
noch größerem Nachdruck als vor vier Jahren. Bereits damals habe ich
eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen. Die Frage müsste
deshalb sein, ob die Linkspartei in den vergangenen vier Jahren
regierungsfähiger geworden ist oder nicht. Ich meine: Nein. Wer auf
die Linkspartei schaut, stellt fest, dass sie keine homogene Partei
ist. Vielmehr firmieren da unter einer Firmenadresse drei Einheiten,
die miteinander nicht können: Es gibt eine Ost-Linkspartei und eine
West-Linkspartei. Deren Angehörige können einander nicht riechen.
Hinzu kommt die Kommunistische Plattform, die mit beiden Flügeln
nichts zu tun haben möchte. Und wer das weiß, muss sich fragen, ob
man unter solchen Voraussetzungen -- mitten in der größten
europäischen Krise -- mit der Linkspartei eine stabile Regierung
bilden kann. Das sehe ich nicht.

Ist es dann ein reizvolles strategisches Ziel für die SPD,
zumindest den westlichen Flügel der Linkspartei wieder zurückzuholen?
Inhaltliche Schnittmengen müsste es geben, etwa beim Thema
Mindestlohn.

Steinmeier: Diesen Kopf müssen sich Teile der Linkspartei selbst
zerbrechen. Das ist nicht unsere Aufgabe. Die Realität ist alltäglich
im Deutschen Bundestag zu sehen. Dort erklärt die Linkspartei
unterschiedslos in allen Debatten die SPD zu ihrem Hauptgegner und
nicht die Regierung. Mindestens ich habe das nicht vergessen!

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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