Badische Neueste Nachrichten: Ein blinder Fleck
Geschrieben am 13-08-2013 |
Karlsruhe (ots) - Wer kann es der Kanzlerin verdenken, dass sie in
die Rolle einer Geschichtslehrerin schlüpft, um an den Mauerbau zu
erinnern. Als Kind hat sie ihn noch selbst erlebt, und zwar in der
DDR. Sie wurde durch den Mauerbau also nicht ausgesperrt, sondern
eingesperrt. Das hinterlässt ganz andere Spuren als auf der anderen
Seite der Mauer, im freien Westdeutschland. Deshalb darf man Angela
Merkel ruhig abnehmen, dass ihr die Erinnerung an die Unrechtstat
jenseits aller wahlkämpferischen Motive ein persönliches, ja
existenzielles Anliegen ist. Aber in dieser Hinsicht gehört die
Regierungschefin einer aussterbenden Generation an. Denn es sind eben
nur die Älteren, und da auch nur in geringer Zahl, die noch so
empfinden. Wer Jugendliche nach dem Ereignis vom 13. August 1961
fragt, der stößt auf ein verstörendes Unwissen. Nur ganz wenige
können mit dem Datum etwas anfangen. Nun mag man entschuldigend
anführen, dass alle geschichtlichen Ereignisse, so bedeutend sie auch
gewesen sein mögen, irgendwann einmal im Sumpf des kollektiven
Vergessens versinken, ja versinken müssen, damit sich die neuen
Generationen unbeschwert der Zukunft zuwenden können. Ist es wichtig,
heute noch den Sedanstag zu kennen oder zu wissen, was zu
Augustbeginn 1914 geschah? Vielleicht sind diese Ereignisse wirklich
schon zu lange her, um sie für erinnerungswürdig zu halten; aber wie
steht es mit dem Jahr 1961? Ragt es nicht in unsere Gegenwart hinein,
und ist es nicht für das deutsche Selbstbewusstsein so bedeutend,
dass man es nicht vergessen sollte, ja nicht vergessen darf? So
gefragt, mag dem wahrscheinlich niemand widersprechen. Dass trotzdem
die meisten Jugendlichen das Datum nicht kennen, liegt an dem
lückenhaften Geschichtsunterricht an deutschen Schulen. In immer
neuen Reformrunden ist er unter die Räder gekommen. Zunächst wurde er
als Wahlfach zur Disposition gestellt, später in vielen Bundesländern
der Sozialkunde zugeschlagen. Von ernstzunehmender geschichtlicher
Überlieferung kann jedenfalls keine Rede mehr sein. Was bleibt, ist -
Geschichte als blinder Fleck.
Pressekontakt:
Badische Neueste Nachrichten
Klaus Gaßner
Telefon: +49 (0721) 789-0
redaktion.leitung@bnn.de
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