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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu 70 Jahre Aufstand im Warschauer Ghetto: "Hand in Hand auf dünnem Eis"

Geschrieben am 15-04-2013

Regensburg (ots) - Bilder sagen bekanntlich meist mehr als tausend
Worte. Man denke an Willy Brandts Kniefall vor dem Warschauer Mahnmal
der Ghetto-Helden im Jahr 1970. Der deutsche Kanzler sank unter der
Last der Geschichte nieder. Er verneigte sich vor den jüdischen und
polnischen Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Das
war die Botschaft jenes Bildes, das um die Welt ging. Ob geplant oder
spontan: Der Kniefall war eine grandiose Versöhnungsgeste. Heute, 70
Jahre nach dem Aufstand im Ghetto, mehr als vier Jahrzehnte nach
Brandts Auftritt in Warschau und fast 25 Jahre nach den friedlichen
Revolutionen von 1989, geistert ein anderes Bild durch die Gazetten.
Es zeigt Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Kleidung eines
KZ-Häftlings. Das rechtskonservative polnische Magazin "Uwa?am rze"
hat die geschmacklose Illustration auf ihrer Titelseite gedruckt, um
die Aufmerksamkeit der Leser und Käufer auf eine Analyse der
deutschen Geschichtsaufarbeitung seit dem Weltkrieg zu lenken.
Auslöser für den Affront waren ebenfalls Bilder: jene Szenen in der
ZDF-Kriegstrilogie "Unsere Mütter, unsere Väter", die Kämpfer der
polnischen Partisanen als Judenhasser zeigen. Auch diese bewegten
Bilder waren ein Affront, wenn auch womöglich ungewollt. Es war
fahrlässig und historisch falsch, die polnische Untergrundarmee AK
einseitig als einen Hort des Antisemitismus darzustellen. Die
Empörung darüber in Polen war ebenso groß wie berechtigt. Der Streit
rechtfertigt allerdings nicht die Merkel-Darstellung als
KZ-Kanzlerin. Und so stellen sich an diesen Gedenktagen, die
eigentlich den Helden und Opfern des Warschauer Ghetto-Aufstandes
gewidmet sein sollten, alte Fragen mit neuer Brisanz: Ist die oft
gerühmte Versöhnung zwischen Deutschen und Polen wirklich gelungen?
Und wie steht es um das Dreiecksverhältnis zwischen den deutschen
Tätern, den jüdischen Opfern und den polnischen Opfer-Tätern?
Historisch unstrittig ist, dass die Wehrmacht Polen mit Panzern
niederwalzte. Die Nazis ermordeten die Elite des Landes gezielt. Mehr
als fünf Millionen Polen starben in dem Vernichtungskrieg. Unstrittig
ist der Holocaust, in dem die Nazis das Leben von sechs Millionen
Juden auslöschten. Unstrittig ist, dass viele Polen unter Einsatz
ihrer Existenz den bedrohten Juden halfen und sie retteten. Ein
Viertel der Personen, die in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte
Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt werden, waren Polen.
Es gibt aber auch Gewissheit darüber, dass Polen als
Nazi-Kollaborateure selbst Jagd auf Juden machten, mitunter ohne
deutsche Hilfe. Einschlägig sind die Berichte über das Massaker von
Jedwabne im Juli 1941, als polnische Bürger der Kleinstadt mehrere
Hundert ihrer jüdischen Nachbarn ermordeten. Während des Aufstandes
im Warschauer Ghetto blieben die meisten Polen in der Stadt
unbeteiligt. AK-Partisanen verkauften den eingemauerten Juden zwar
Waffen, aber nur für horrende Geldsummen. Zugegeben: Sie brauchten
die Pistolen und Gewehre selbst. Aber hätte nicht der Feind des
Feindes vor allem Freund und Kampfgefährte sein sollen? Man darf
diese Frage auch als Deutscher stellen, aber man kann es auch lassen.
Besser ist es in jedem Fall, wenn die Polen sich den Spiegel selbst
vorhalten. Und das tun sie seit Jahren. Deshalb auch war es ein
verheerender Fehltritt der ZDF-Filmemacher, die Geschichte der AK
derart verkürzt und unreflektiert zu schildern. Nun soll es einen
gesonderten Film über die polnischen Partisanen geben. Das Kind aber
liegt zunächst einmal im Brunnen. Rechtspopulisten wie die Macher des
Magazins "Uwa?am rze" frohlocken. All dies belegt vor allem eines:
Die Aussöhnung zwischen Deutschen, Polen und Juden ist weit
fortgeschritten, aber die Völker wandeln Hand in Hand auf dünnem Eis.
Es bedarf weiterer geduldiger Arbeit an den Fundamenten, um darauf
eine gemeinsame Zukunft bauen zu können. Politiker, Historiker und
Filmemacher, aber auch wir Journalisten sollten dies stets bedenken.
Autor: Ulrich Krökel



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


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