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Landeszeitung Lüneburg: Hetze bereitet Boden fÏr Sozialabbau / Linken-Chefin Katja Kipping kritisiert Polemik gegen Erbwerbslose und fordert Umverteilung von oben nach unten

Geschrieben am 15-11-2012

Lüneburg (ots) - Noch hat die Linke ihren Spitzenkandidaten für
die Bundestagswahl nicht gekürt, doch Umfragen sehen ihren Einzug ins
Parlament als nicht gefährdet an. Umstritten bleibt in der Partei,
was sie dort wollen: Pragmatiker streben Regierungsbeteiligungen an,
Fundamentalisten bevorzugen die Opposition. Parteichefin Katja
Kipping sieht keine Zerstrittenheit, nur abweichende
Traditionslinien. "Die Linke hat das Zeug, die Gräben in der
Gesellschaft zuzuschütten."

Soll Ihr Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens die
bisherigen Sozialversicherungssysteme ersetzen?

Katja Kipping: Nein, auf gar keinen Fall. Das Verhältnis von
Grundeinkommen zu Sozialversicherungsleistungen würde ungefähr so
sein wie zwischen Mindestlohn und Tariflohn. Das bedingungslose
Grundeinkommen soll die bestehenden Sicherungssysteme ergänzen, quasi
als unterer Sockel, unter den man auf keinen Fall rutscht.

Wo ist da der Unterschied zu Hartz IV heute?

Katja Kipping: Das Grundeinkommen ist das glatte Gegenteil von
Hartz IV. Ein überparteiliches Netzwerk im Bundestag hat vier
Kriterien für ein Grundeinkommen festgelegt, die quasi einen
Gegenentwurf zu Hartz IV darstellen: 1. Armutssicher. Das
Grundeinkommen muss so hoch sein, dass es die Teilhabe am
öffentlichen Leben gewährleistet. 2. Unabhängig von der Form der
Partnerschaft, in der man lebt. 3. Es wird ausgezahlt, ohne dass es
die Pflicht gibt, eine Arbeit anzunehmen und 4. ohne einen
Bedürftigkeitsnachweis. Natürlich gäbe es am Jahresende eine
Einkommensprüfung, weil das Grundeinkommen über eine stärkere
Einkommensbesteuerung finanziert werden würde.

Würde ein derartiges Grundeinkommen nicht das Tor öffnen für noch
mehr Lohndumping? Arbeitgeber könnten dies als Sockel eines
Kombilohnes missbrauchen.

Katja Kipping: Genau das erleben wir gegenwärtig mit Hartz IV.
Weil es in Deutschland keinen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn gibt, müssen Menschen mit niedrigen Löhnen aufstocken.
Deshalb haben wir eine über Steuergelder finanzierte Form von
Lohndumping. Um auf Nummer sicher zu gehen, sollte man auch bei
Einführung eines Grundeinkommens einen Mindest-Stundenlohn
garantieren. Hinzu kommt, dass sich die Löhne im Kapitalismus nicht
nach den Bedürfnissen richten. Anderenfalls gäbe es einerseits keine
Stundenlöhne von knapp über drei Euro für Friseure und andererseits
Millionen-Boni für Manager.

Fürchten Sie nicht, dass sich Geringverdienende von Ihnen
abwenden, die für ihr Geldhart arbeiten und sicherlich nicht amüsiert
sind über vermeintliche Almosen für Faule?

Katja Kipping: Nein, denn während es im Hartz-IV-System für den
Teilzeitarbeitenden sehr schwer zu erkennen ist, wo noch ein
Lohnunterschied besteht, bekommt das Grundeinkommen jeder - und
zusätzlich noch den Erwerbsarbeitslohn oben drauf. Die Frage
impliziert aber außerdem, dass nur Erwerbsarbeit als Arbeit
anzuerkennen ist. Und dahinter würde ich ein großes Fragezeichen
setzen. Es gibt viele Tätigkeiten, die für die Gesellschaft
unverzichtbar sind, aber nicht als Erwerbsarbeit organisiert sind,
etwa die Pflege von Angehörigen, Kindererziehung, aber auch
politisches Engagement. Ebenso braucht eine Gesellschaft
Weiterbildung und Muße. Nach einer Zeitbudget-Erhebung des
Statistischen Bundesamtes werden 96 Milliarden Stunden in unbezahlter
Arbeit geleistet und 56 Milliarden in bezahlter. Aber auch wenn ich
glühende Verfechterin des Grundeinkommens bin, muss ich schon
einräumen, dass dieses Konzept auch in der Linkspartei umstritten
ist.

Fürchten Sie kein Zementieren von Transfermentalität und
Staatshörigkeit?

Katja Kipping: Nein, denn das Grundeinkommen ist nicht als
Stillhalteprämie angelegt, sondern als Aktivierungs- oder
Kreativitätspauschale, weil es jeden in die Lage versetzt, seinem
Leben selbst Sinn zu geben. Wer dahinter ein naives Menschenbild
vermutet, dem entgegne ich, dass in jedem Menschen beides angelegt
ist: der Drang, sich sinnstiftend einzubringen und der innere
Schweinehund. Die Frage ist doch, ob man der produktiven Seite über
materielle Existenzangst zum Übergewicht verhilft oder doch eher über
die Bildung. Ich denke, Existenzangst ist ein schlechter Ratgeber.

Das bedingungslose Grundeinkommen findet quer durch die Lager
Sympathisanten. Wird das Konzept zum Vehikel für neue
Bündnisoptionen?

Katja Kipping: Zurzeit hat sich keine im Bundestag vertretene
Partei dafür mehrheitlich ausgesprochen. Und es gibt sehr
unterschiedliche Modelle. So ist nicht überall, wo das Etikett
Grundeinkommen draufklebt, auch ein Grundeinkommen, das die vier
Kriterien des überparteilichen Netzwerkes erfüllt, drin. So ist das
Konzept von Dieter Althaus (CDU) nicht armutsfest. Das
Bürgergeld-Modell der FDP ist eher Hartz VI.

Sind Sie Vortragsmillionär Peer Steinbrück dankbar, das Thema
soziale Gerechtigkeit mit einer ganz eigenen Note angeschoben zu
haben?

Katja Kipping: Die Gefahr besteht eher darin, dass hier ein
Honorarkönig Kanzler werden will, der sich gegenüber dem dahinter
stehenden Demokratieproblem als recht unsensibel erwiesen hat. Wenn
jemand, der Milliarden Steuergelder zur Bankenrettung eingesetzt hat,
in der Höhe nicht mehr zu rechtfertigende Vortragshonorare
einstreicht, entsteht bei vielen der Eindruck, Politiker sind
käuflich. Und dies fördert eine gefährliche Abkehr von der Politik.
25EUR000 Euro für einen einstündigen Vortrag sind obszön, wenn man
weiß, dass eine Krankenschwester dies im Jahr verdient.

Hat das Volk ein Recht auf gläserne Abgeordnete?

Katja Kipping: Es hat einen Anspruch darauf, zu erfahren, wo
mögliche Interessenskoalitionen bestehen. Transparenz ist keine
Gnade, die Abgeordnete gewähren, sondern ein verbrieftes Recht der
Bürgerinnen und Bürger.

Die soziale Schere klafft immer stärker auseinander: Ist die Zeit
reif für linke Politik auch im Bund?

Katja Kipping: Sie sollte es auf jeden Fall sein. Dabei meint
linke Politik, so wie ich sie verstehe, eine Umverteilung in einem
umfassenderen Sinn. Die erste Dimension wäre die Umverteilung von
oben nach unten. Damit die Reichen nicht immer reicher und die Armen
nicht immer ärmer werden. Man muss die Superreichen zur Kasse bitten,
um zu garantieren, dass niemand unter die Armutsgrenze fällt. Zudem
müssen die Tätigkeiten umverteilt werden, es braucht also eine
konsequente Arbeitszeitverkürzung, um die vorhandene Erwerbsarbeit
gerechter zu verteilen und um die ungerechte Verteilung zwischen den
Geschlechtern zu korrigieren. Das heißt auch, mehr Hausarbeit von
Frauen- in Männerhand.

"Spätrömische Dekadenz", "Hartz-IV-Schmarotzer", "Prekariat":
Beginnt auch in Deutschland eine Dämonisierung der Unterschicht, wie
es sie in England schon seit Jahren gibt?

Katja Kipping: Es gibt schon seit langem eine Hetze gegen
vermeintliche Faulheit der Erwerbslosen. Dies bereitet meist weiterem
Sozialabbau den Boden. Außerdem spielen regierende Politiker gerne
die ganz Armen gegen die weniger Armen aus. Das sind
Ablenkungsmanöver. Um zu verschleiern, wo die Millionen tatsächlich
hinfließen, wird der Verkäuferin eingeredet, dass sie wegen der
Hartz-IV-Beziehenden so wenig verdient, Dabei kommt der Mehrwert, den
sie produziert, dem Unternehmen und seinen Managern zugute und nicht
ihr.

Im Osten Volkspartei, im Westen Farbtupfer - wird die Linke die
CSU der neuen Bundesländer?

Katja Kipping: Nein, auf keinen Fall. Die Linke muss eine
bundesweite, linkspluralistische Partei sein. Als Regionalpartei
würden wir im Bund nicht mehr ausreichend gehört werden. Wenn ich
durchs Wendland reise, habe ich aber nicht den Eindruck, dass die
Linke nur Farbtupfer ist. Hier ist sie vielmehr vitaler Teil des
Widerstandes.

Nun hat das Wendland eine ganz spezielle politische Kultur. Wie
stehen die Chancen der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen?

Katja Kipping: Dort aus dem Landtag zu fliegen, war natürlich
hart. Allerdings war damals unser Erscheinungsbild im Bund auch keine
Wahlkampfunterstützung. Klar, freue ich mich jetzt darüber, dass seit
unserem Göttinger Bundesparteitag unsere Umfragewerte nach oben
gehen, auch in den westlichen Bundesländern. Wären jetzt
Landtagswahlen in NRW, würde das Ergebnis anders aussehen.

Die Wunden, die die Auseinandersetzung zwischen Gysi und
Lafontaine geschlagen hat, sind noch nicht verheilt. Droht ein
Aufbrechen im Bundestagswahlkampf?

Katja Kipping: Es gibt ein großes Interesse in der Partei, die
Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen und die Unterschiede
konstruktiv auszutragen, und nicht auf der persönlichen Ebene. Wer
will schon in einer Partei sein, in der alle immer einer Meinung
sind?!

Wer wird Spitzenkandidat?

Katja Kipping: Der Parteivorstand wird beraten und zu gegebener
Zeit der Partei einen Vorschlag machen.

Kann eine Partei, die derart in Ost und West, in Reformer und
Antikapitalisten gespalten ist wie die Linke, glaubwürdig die soziale
Kluft in Deutschland zuschütten?

Katja Kipping: Wir sind nicht gespalten, bei uns gibt es
unterschiedliche Traditionslinien. Europaweit sind wir mit dem
Anspruch, links von der Sozialdemokratie eine linkspluralistische
Partei zu verankern, ein Erfolgsmodell. Wo linke Parteien derzeit in
Frankreich, Spanien und Griechenland Erfolge feiern, haben sie das
Modell der Linken übernommen. Uns geht es darum, die Themen
anzusprechen, die gemeinsame Klammern darstellen - vom Erwerbslosen
über den Beschäftigten bis hin zum Solo-Selbstständigen. Das wäre
beispielsweise die Zunahme von Stress: Den hat der Erwerbslose, wenn
er mit Angst vor Schikane zum JobCenter geht. Das betrifft den
Solo-Selbstständigen, der um den nächsten Auftrag bangt. Und das
betrifft den Leiharbeiter, der nicht weiß, wann er das nächste Mal
eingesetzt wird. Ein weiteres Beispiel ist die Altersarmut, die viele
gesellschaftliche Gruppen bedroht. Das sind Themen, bei denen wir
Lösungen anbieten, um gesellschaftliche Brüche zu kitten.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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