(Registrieren)

Landeszeitung Lüneburg: Landeszeitung Lüneburg: Die unterschätzte Katastrophe -- Christoph Unger, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, fordert bessere Vorbereitung a

Geschrieben am 11-10-2012

Lüneburg (ots) - Wie haben sich die Aufgaben im Katastrophenschutz
verändert?

Christoph Unger: Einschneidend war für uns das Elbe-Hochwasser
2002. Auch ich habe damals meine ersten Erfahrungen mit dem
Katastrophenschutz gemacht, denn ich war zu dem Zeitpunkt Büroleiter
im niedersächsischen Innenministerium. Ich weiß noch genau, wie wir
damals mit Minister Heiner Bartling und Ministerpräsident Sigmar
Gabriel auf dem Deich standen und erhebliche Defizite -- nicht im
Landkreis Lüneburg, auch nicht in Niedersachsen -- festgestellt
haben. Es herrschten teils chaotische Verhältnisse, denn es gab kein
vernünftiges Informations- und kein Ressourcenmanagement. Diese
Defizite haben dazu geführt, dass Bund und Länder 'ne ganze Menge an
Maßnahmen angeschoben haben. Unter anderem auch die Einrichtung
meiner Behörde -- das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe (BBK) -- mit der besonderen Aufgabenstellung, als
Zentralstelle im Bevölkerungsschutz unter anderem für Dinge wie
ausreichend Sandsäcke zu sorgen, ein Lagebild zu erstellen, aber auch
auszubilden.

Ist der Katastrophenschutz angesichts der Tatsache, dass sich die
Gefahrenpotenziale ändern und auch größer werden, vielleicht sogar
überfordert?

Unger: Nein, denn das BBK ist ein Element eines verbesserten
Krisenmanagements in Deutschland. Ich will das mit einem ganz
konkreten Beispiel erklären: Wir haben bis 1989 unter den Bedingungen
des Kalten Krieges regelmäßig das Zusammenwirken von Bund und Ländern
geübt. Diese Wintex-Übungen wurden dann eingestellt. Das ist ein
Punkt, der uns 2002 beim Elbe-Hochwasser auf die Füße gefallen ist,
denn da wurde deutlich, dass die Kooperation über Ländergrenzen
hinweg nicht funktionierte. Daher führen wir jetzt im Auftrag meiner
Behörde wieder Übungen durch, und zwar alle zwei Jahre. Diese LÜKEX
(Länderübergreifende Krisenmanagementübung -- Exercise) sind
themenorientiert: Pandemie, Stromausfall; im nächsten Jahr geht es um
das Thema Lebensmittelsicherheit (z.B. eine EHEC-Krise), und 2015 ist
das Bedrohungsszenario eine Sturmflut an der Nordseeküste. Das sind
Dinge, die wir seit Einsetzung des BBK konkret machen. Aber das ist
nicht das Einzige.

Wer trägt die Kosten für LÜKEX?

Unger: Wir tragen die Kosten für die Vorbereitung und
Durchführung, die Länder und die beteiligten Unternehmen kommen für
ihre eigenen Personalkosten auf.

In Ländern wie Japan und Neuseeland finden regelmäßig
,,Erdbebentrainings" in Schulen und Firmen statt. Wie steht es in
Deutschland um die Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung?

Unger: Wir glauben, dass die Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung
in Deutschland unzureichend ist und arbeiten daher daran. Beispiel
Stromausfall: Die Menschen dieser Republik sehen darin eigentlich
kein Problem. Nach den Vorfällen im Münsterland im Winter 2005 hatte
das Deutsche Rote Kreuz eine Umfrage in Auftrag gegeben und Bürger
gefragt, wie lange sie wohl ohne Strom auskommen könnten. Und das
erschreckende Ergebnis war, dass mehr als 60 Prozent ,mehr als 2
Wochen' zur Antwort gegeben hatten. Wir wissen aber, dass schon 24
Stunden nach einem großräumigen Stromausfall die Gesellschaft
Probleme bekommt -- Kochen, Waschen, Kühlen, Heizen, Telefonieren,
ohne Strom geht fast nichts. Es fehlt also an der notwendigen
Sensibilität ebenso wie an der Vorbereitung. Das BBK will daher mit
Broschüren wie ,,Für den Notfall vorgesorgt" und ,,Verhalten bei
besonderen Gefahrenlagen" aufklären. Auch in Bezug auf Terrorgefahren
versuchen wir zu sensibilisieren. Hier sind bereits Fortschritte zu
merken. Das liegt auch daran, dass wir heute mit diesen
Schreckensszenarien, die den LÜKEX-Übungen zugrunde gelegt werden, an
die Öffentlichkeit gehen. Denn es ist mittlerweile politisch
ausdrücklich gewollt, dass darüber berichtet wird. Ob Pandemie -- 30
bis 40 Prozent der Bevölkerung sind krank -- oder Stromausfall oder
Hackerangriffe: Der Bürger soll diese Gefahren kennen. Es verändert
sich also durchaus etwas. Gleichwohl fehlt es noch an der konkreten
Umsetzung seitens der Bevölkerung.

Gibt es Maßnahmen, die speziell auf die Behebung dieses Mankos
abzielen?

Unger: Ja, so versuchen wir, speziell auf Kinder zuzugehen. Kinder
und Jugendliche sind lernbereit und lernfähig und damit für uns eine
ganz besondere Zielgruppe. Übers Internet und über Schulen versuchen
wir, Kinder für diese Themen zu gewinnen und ihre Fähigkeit, sich
selbst und anderen zu helfen, zu verbessern. Daher haben wir neben
unserem BBK-Internetportal einen eigenen Internetauftritt für Kinder
geschaffen: www.max-und-flocke-helferland.de

Wie sieht die Zusammenarbeit mit Schulen genau aus?

Unger: Es gibt zwei große Bereiche. Zum einen haben wir in
Kooperation mit den Hilfsorganisationen eine erweiterte
Erste-Hilfe-Ausbildung an den Schulen. Jedes Jahr nehmen mehrere
Hunderttausend 13- bis 16-Jährige auf unsere Kosten an den Kursen
teil. Und seit einem Jahr gibt es das Internetportal für Kinder von 7
bis 12 Jahren, das 2011 zusammen mit dem Bundesinnenminister
gestartet wurde. Das besteht aus interaktiven Lernspiel-Angeboten,
begleitet von Broschüren sowie Arbeitsblättern für Schulen und
Lehrer, die wir auch auf der Fachmesse Didacta vorgestellt haben.
Hier kommt es letztlich auf die Lehrer an, diese Angebote zu nutzen.

Das Rückgrat der Katastrophenhilfe ist das Ehrenamt. Doch nur noch
4 Prozent der Bevölkerung engagieren sich ehrenamtlich. Wie lässt
sich dieser Trend umkehren?

Unger: Es gibt keinen einheitlichen Trend in der Bundesrepublik.
Es ist ein grundsätzliches und wachsendes Problem, das wir --
zumindest in Teilen der Republik -- bereits haben oder bald bekommen
werden. Insbesondere in den neuen Bundesländern ist das Ehrenamt nie
so stark ausgeprägt gewesen wie in den alten. Das liegt auch an den
unterschiedlichen Strukturen. Wir haben im Osten mancherorts schon
jetzt Bereiche, in denen das Ehrenamt nicht mehr so funktioniert, wie
es eigentlich funktionieren müsste. Das heißt, Hilfsfristen werden
nicht mehr eingehalten.

Was sind Hilfsfristen?

Unger: Eine Feuerwehr muss innerhalb einer Viertelstunde vor Ort
sein. In Vorpommern gibt es Bereiche, die nach Einschätzung der
EU-Kommission schon als entvölkert gelten müssen. Das heißt, die
freiwilligen Feuerwehren in den Gemeinden existieren in der Woche
nicht. Die Kreisfeuerwehr aus der nächsten Kreisstadt muss das mit
abdecken. Ähnlich ist es an der gesamten Ostgrenze Niedersachsens.
Man versucht hier gegenzusteuern. Dazu dienen Kampagnen wie Frauen in
die Feuerwehr, Menschen mit Migrationshintergrund in die Feuerwehr
bis hin zu der Frage, gibt es ergänzende Strukturen, die diese
Entwicklung auffangen können.

Könnten die in einigen Ländern noch fehlenden Regelungen zur
Freistellung und Aufwandsentschädigung eine Ursache für das mangelnde
Interesse der Bürger am Freiwilligen Dienst sein?

Unger: Es gibt häufig Kritik. Aber in wirklichen Notsituationen
sind die Arbeitgeber durchaus bereit, ihre Leute zu schicken. Das
Problem ist differenzierter zu sehen: Wir haben heute ein Ehrenamt,
das mit riesengroßen Herausforderungen zum Beispiel in punkto
Ausbildung einhergeht. Technik bis hin zu
Unfallverhütungsvorschriften erfordern, dass wir viel ausbilden
müssen. Ein Feuerwehrauto zum Preis von 250000 Euro ist voll gestopft
mit Technik, die unter schwierigen Bedingungen entsprechend bedient
werden muss. Auch bei den Sanitätsfahrzeugen handelt es sich nicht
mehr nur um einfache Liegendtransporter, sondern um Hightech-Geräte.
Gleiches gilt für den ABC-Bereich. Ehe da jemand eingesetzt werden
kann, muss derjenige hochqualifiziert ausgebildet werden. Das ist
natürlich sehr zeitintensiv. Da tun sich durchaus auch ökonomische
Probleme auf, die durch Freistellungsregelungen allein nicht gelöst
werden können. Umso mehr honorieren wir den Einsatz von Betrieben und
Unternehmen, die sich für das Ehrenamt im Bevölkerungsschutz stark
machen, so mit der jährlichen Auszeichnung durch den Ehrenamtspreis
"Helfende Hand" des Innenministeriums.

Katastrophen machen vor Staatsgrenzen keinen Halt. Wäre eine
Koordinierungsstelle für ganz Europa, die Innenminister Hans-Peter
Friedrich zwar ablehnt, wünschenswert?

Unger: Wir, das BBK, verstehen uns als Koordinierungsstelle für
den nationalen Bereich. Aufgrund der föderalen Strukturen ist der
Katastrophenschutz bei den Ländern, der Zivilschutz beim Bund
angesiedelt. Wir, das BBK, haben den Auftrag, gerade über
Ländergrenzen hinweg Koordinierung wahrzunehmen. Die EU will auch so
etwas Ähnliches machen. Minister Friedrich lehnt das auch nicht
grundsätzlich ab, er will nur nicht, dass die EU eigene ,,Truppen"
aufstellt, die dann auf alleinige Anordnung der EU in Marsch gesetzt
werden. Ferner besteht die Gefahr, dass sich Länder auf die
EU-Hilfsteams verlassen, statt ihre eigenen Schutzaufgaben zu
erfüllen. Andererseits gibt es bereits über das THW bestimmte
Einsatzkontingente, die ganz schnell im Auftrag der EU entsandt
werden können. Wir als BBK sind nationale Andockstelle auch für die
EU. Eine europäische Kooperation ist also bereits vorhanden, und sie
wird sicherlich noch ausgebaut. Weniger wünschenswert ist, dass zum
Beispiel ein Großschadensfall wie Hochwasser an der Elbe von Brüssel
aus bewältigt wird.

Wie beurteilen Sie den Stand der deutschen Katastrophenhilfe im
europäischen Vergleich?

Unger: Wir haben einen ausgesprochen hohen Standard, nicht nur
europa-, sondern sogar weltweit. Über das BBK werden zum Beispiel
Fachleute für China ausgebildet. Die Chinesen sind nach dem heftigen
Erdbeben 2008 in der Welt rumgefahren, um zu sehen, wer deren
Führungskräfte im Krisenmanagement ausbilden kann, und sind bei uns
gelandet. Sie werden bei uns an der Akademie für Notfallplanung,
Krisenmanagement und Zivilschutz in Ahrweiler fit gemacht. Ferner
haben wir den Auftrag, in Tunesien Strukturen aufzubauen oder bilden
für die europäische Kommission Führungskräfte aus. Das sind Fakten,
die belegen, dass wir gut sind.

Demnächst soll das Pilotprojekt ,,Modulares Warnsystem" an den
Start gehen. Kann die Einführung an klammen Kassen der Kommunen
scheitern?

Unger: Die Länder wollen natürlich, dass der Bund diese Kosten
übernimmt, doch ihn plagen dieselben finanziellen Probleme. Das wird
daher in den nächsten Monaten eine politische Frage. Und ich hoffe,
dass wir nicht in die gleiche Diskussion kommen wie einst beim
Digitalfunk. Das Ziel einer flächendeckenden Warnung der Bevölkerung
vor Gefahren darf nicht aus den Augen verloren werden. Der Bund
stellt mit dem MoWas eine umfassende technische Lösung zur Verfügung,
die es nun gemeinsam auszufüllen gilt.

Das Gespräch führte Dietlinde Terjung



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

422575

weitere Artikel:
  • Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Minister Altmeiers Ökoenergie-Reform Gratwanderung HANNES KOCH, BERLIN Bielefeld (ots) - Wir können keine Entscheidung treffen, weil wir zu wenig wissen - mit diesem Argument verweigert Bundesumweltminister Peter Altmeier eine neue, übereilte Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Sein Vorgehen ist richtig und gefährlich zugleich. Der Umweltminister wagt eine Gratwanderung. In der Debatte über die Energiewende tritt er als deren Vorkämpfer auf. Mit dem Vorschlag, den er unterbreitet hat, will er sie sogar beschleunigen. Die Ansage lautet nun: Bereits 2020, in acht Jahren, werden 40 Prozent des deutschen mehr...

  • Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Literaturnobelpreis für Mo Yan Schatten auf dem Preisträger STEFAN BRAMS, FRANKFURT Bielefeld (ots) - Die Vergabe des Literaturnobelpreises an Mo Yan überrascht nicht. Der 57-Jährige war schon des Öfteren gehandelt worden und stand auch in diesem Jahr wieder ganz oben auf der Kandidatenliste. Sie überrascht auch deshalb nicht, weil in der Tat mal wieder ein Autor aus Afrika oder Asien dran war, denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass bei der Vergabe der Literaturnobelpreise vor allem Autoren aus dem westlichen Kulturraum zum Zuge kommen. Insofern geht die Vergabe in Ordnung. Und auch literarisch ist an der mehr...

  • Mitteldeutsche Zeitung: zu Sachsen-Anhalt und demografischer Wandel Halle (ots) - Für Sachsen-Anhalt ist die demografische Entwicklung mehr noch als für andere Bundesländer die beherrschende Frage der kommenden Jahre und Jahrzehnte. Langsam, sicherlich zu langsam rückt das auch in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Garantiert zu lange wurde auf die dramatischen Bevölkerungsprognosen nicht angemessen reagiert - nach dem Motto "Das wird schon werden". In einigen ländlichen Gebieten sind aber die Wege bis zum nächsten Geschäft und der nächsten Arztpraxis nun schon sehr, sehr lang geworden. mehr...

  • Rheinische Post: Auswege für leidende Frauen = Von Detlev Hüwel Düsseldorf (ots) - Es sind erschreckende Zahlen, die das nordrhein-westfälische Innenministerium jetzt vorgelegt hat. Demnach nimmt die registrierte häusliche Gewalt immer stärker zu. Möglicherweise ist die Dunkelziffer noch viel höher, weil sich die misshandelten Frauen schämen, die Polizei einzuschalten. Vielleicht unterlassen sie es auch aus Angst vor neuen Gewalttaten ihrer Männer und Partner. Die Zahlen belegen aber auch, dass bei den betroffenen Frauen der Mut wächst, sich nicht dumpf mit ihrem Schicksal abzufinden, sondern mehr...

  • Mitteldeutsche Zeitung: zu EEG-Umlage Halle (ots) - Richtig ist, dass der Abschied von Atomkraft und fossilen Energieträgern viel Geld kostet. Die Erneuerbaren sind tatsächlich für die Hälfte des Strompreisanstiegs in den letzten zehn Jahre verantwortlich. Aber auch Gas und Kohle sind teurer geworden, die Ausnahmeregeln für die Industrie bezahlen die Verbraucher.Viel wichtiger ist eine ehrliche Debatte darüber, wie die Kosten der Energiewende gerechter in der Gesellschaft verteilt werden können. Die Industrie muss stärker ins Boot geholt werden, Geringverdiener, Hartz-IV-Empfänger mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht