(Registrieren)

Landeszeitung Lüneburg: Der Atlantik ist breiter geworden / Sicherheitsexperte Dr. Overhaus: Konflikte in der NATO über gerechte Lastenverteilung haben sich noch verschärft

Geschrieben am 24-05-2012

Lüneburg (ots) - Zwar suggerierte die NATO auf dem Gipfel in
Chicago Einigkeit, doch das überzeugt Dr. Marco Overhaus,
Sicherheitsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Europas
größter außenpolitischer Denkfabrik, nicht: "Die Konflikte innerhalb
des Bündnisses wurden nicht beigelegt, manche, etwa über die
Lastenverteilung, haben sich sogar noch verschärft."

Schon die Balkankriege, in jüngerer Zeit aber auch der Arabische
Frühling zeigten Lücken im Instrumentenkasten der EU. Sind die
EU-Battlegroups geeignet, diese Lücken zu schließen?

Dr. Marco Overhaus: Die Battlegroups haben einen gewissen Beitrag
geleistet, um die sicherheits- und verteidigungspolitische
Zusammenarbeit in Europa zu intensivieren. Man muss aber auch
feststellen, dass die Battlegroups wenig dazu beigetragen haben, die
Effektivität der gemeinsamen verteidigungspolitischen Anstrengungen
Europas zu steigern. Das liegt wesentlich zum einen daran, dass es
bisher aus politischen Gründen noch keinen Einsatz dieser
Battlegroups gegeben hat. Außerdem bieten die Battlegroups für sich
genommen auch keine Antwort auf die breitgefächerten zentralen
Probleme europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Da gibt
es zum einen eine strategische Unklarheit. Man weiß nicht genau, was
die genauen Ziele der Kooperation sind. Diese leidet zudem an
mangelhaften militärischen Fähigkeiten und am generellen
Bedeutungsverlust des Militärs in Zeiten einer Staatsschuldenkrise.

Multinationaler Aufbau, gemeinsame Verantwortung: Sind die
Battlegroups nicht ideale Vorreiter einer europäisierten
Sicherheitspolitik?

Dr. Overhaus: Die Battlegroups führen zumindest dazu, dass
innerhalb Europas mehr Gemeinsamkeit hergestellt wird, mehr
Verständnis für nationale Eigenheiten der Partner, mehr gemeinsame
Konzepte, mehr Interoperabilität. Aber das allein reicht nicht aus,
um die Politik der Europäischen Union im Bereich der
Sicherheitspolitik effektiver zu machen. Aus Sicht der Außenwelt üben
die Battlegroups insofern keine Vorreiterrolle aus. Schnelle
Verfügbarkeit, großer Einsatzradius: Will die EU mit den Battlegroups
der NATO als Weltpolizist Konkurrenz machen? Dr. Overhaus: Das sehe
ich nicht so. Zum einen haben EU und NATO zum größten Teil
überlappende Mitgliedschaften. Zum anderen sind auch die
Zielsetzungen im sicherheitspolitischen Bereich weitgehend identisch.
Es käme nur zu einer Konkurrenzsituation, wenn beide Institutionen
gleichzeitig einen Einsatz beschließen würden. Dann müssten die
betroffenen Nationen abwägen, welchen Einsatz sie bevorzugen. Die
vermeintliche Konkurrenz von EU und NATO wird in der Debatte
künstlich herbeigeredet.

Dänemark verzichtet auf Panzer, Großbritannien auf
Erdkampfflugzeuge: Zwingt der Rotstift die Europäer zu einer
arbeitsteiligen Rüstungspolitik?

Dr. Overhaus: In der Tat müsste die Wirtschafts- und
Staatsschuldenkrise zu einer Intensivierung der rüstungspolitischen
Zusammenarbeit führen. Aber das passiert bisher interessanterweise
lediglich in Ansätzen. Auch auf diese Herausforderung bieten die
Battlegroups keine befriedigende Antwort, denn sie haben weder zu
neuen Rüstungskooperationen noch zu Neuanschaffungen geführt.

Woran hapert es bei der Ausrüstung der EU-Truppen?

Dr. Overhaus: Auch abseits der Battlegroups gibt es einige
Defizite bei den strategischen Fähigkeiten: Schon traditionell zählt
dazu der Lufttransport über längere Distanzen. Ebenso gibt es
Defizite bei der Luftbetankung, der Kommunikation und der Aufklärung.
Bei NATO und EU fehlt es nicht an Infanterie-Einheiten. Woran es
mangelt, sind Truppen mit strategischen Fähigkeiten. Die Battlegroups
sind in erster Linie ein politisches Projekt zur Intensivierung der
Kooperation. Damit geht nicht automatisch die Bereitschaft einher,
mehr Geld auszugeben.

Mit weniger Geld will auch die NATO mehr Sicherheit erzeugen.
Läuft das Konzept "smart defence" auf mehr Lasten für die Europäer
hinaus?

Dr. Overhaus: Der beim NATO-Gipfel in Chicago zur Schau gestellten
Harmonie zum Trotz bleibt der transatlantische Raum nicht von
Problemen bei der sicherheitspolitischen Kooperation verschont.
Zahlreiche Konflikte zwischen den USA und der Europäischen Union
bestehen fort. Einige haben sich sogar verschärft: Etwa der um die
operative und finanzielle Lastenteilung in Afghanistan. Der neue
französische Präsident Francois Hollande hat einen Konflikt mit den
USA ausgelöst, weil er die eigenen Kampftruppen vorzeitig abziehen
will. Auch bei der langfristigen Finanzierung der afghanischen
Sicherheitskräfte hätte sich Washington von den Europäern einen
größeren Beitrag gewünscht. Generell bleibt die Lastenverteilung im
transatlantischen Bündnis umstritten. Die USA tragen heute 75 Prozent
der Verteidigungsausgaben der NATO. Der scheidende
US-Verteidigungsminister Robert Gates hatte Recht mit seiner Kritik,
die NATO drohe aufgrund des geringen finanziellen Engagements der
Europäer zu einem geteilten Bündnis zu verkommen.

Auch künftig will die NATO parallel zwei größere und sechs
kleinere Operationen schultern können. Ist dies Illusion angesichts
einer USA, die künftig mehr im Pazifik als im Atlantik agiert?

Dr. Overhaus: Diese Frage kann nicht anhand der konkreten Zahl
gemeinsamer Operationen beantwortet werden. Die Frage lautet vielmehr
generell, ob die USA und Europa in Zukunft noch in der Lage sein
werden, gemeinsam sicherheitspolitisch zu handeln. Und dies auch
jenseits klassischer Bündnispolitik, etwa im zivil-militärischen
Krisenmanagement. Und bei dieser Frage sehe ich mit großer Sorge,
dass die transatlantischen Konflikte virulent bleiben beziehungsweise
sich sogar zuspitzen.

Geht dem Pakt der Vorrat an gemeinsamen Werten und strategischen
Zielen aus? Jeder Wahlkampf kann - wie jetzt in Frankreich - dazu
führen, dass gemeinsame Beschlüsse gekippt werden...

Dr. Overhaus: Wir haben das Grundproblem, dass Verteidigungs- und
Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahren grundsätzlich an
Bedeutung eingebüßt haben. Dieser Trend wurde durch die Schuldenkrise
verstärkt. Die meisten westlichen Regierungen fokussieren ihre
Aufmerksamkeit auf wirtschafts- und sozialpolitische Themen, so dass
Sicherheitspolitik hinten runter zu fallen droht.

Ist dies nicht eine bizarre Haltung angesichts massiver Aufrüstung
in Asien? Hier entsteht doch eine neue Herausforderung für die NATO.

Dr. Overhaus: Die Tatsache, dass die aufstrebenden Länder, unter
ihnen insbesondere China der Sicherheitspolitik eine höhere Priorität
einräumen, ändert offensichtlich nichts an dem Kalkül Europas, dass
Sicherheits- und Verteidigungspolitik an Bedeutung verlieren. Das
kann man bedauern und anprangern, aber offensichtlich wird die Welt
in beiden Hemisphären unterschiedlich wahrgenommen. Aus Sicht Europas
definiert sich das Verhältnis zu den Aufsteigernationen nicht über
militärische Fragen, sondern über wirtschaftliche und
ordnungspolitische.

Muss Deutschland den Parlamentsvorbehalt opfern, wenn es in der
NATO nicht an Einfluss verlieren will?

Dr. Overhaus: Nein. Ich denke, dass der Parlamentsvorbehalt
bleiben wird, und das aus gutem Grund. Dennoch wird man darüber
nachdenken müssen, wie es gelingen kann, dass sich Deutschland
zunehmend in multinationale Strukturen integriert und dabei
zuverlässig bleibt. Es darf nicht sein, dass Waffensysteme nicht
bedienbar sind oder Einheiten geschwächt werden, weil Berlin vor dem
Einsatz seine Soldaten zurückzieht. Meiner Meinung nach liegt das
Hauptproblem hier jedoch nicht beim Deutschen Bundestag.

Hat Francois Hollande mit dem Quasi-Abzug der Franzosen ein
Abzugswettrennen eingeläutet?

Dr. Overhaus: Der innenpolitische Druck auf alle Regierungen von
NATO-Staaten wird steigen, das Afghanistan-Engagement so schnell wie
möglich zu beenden. Die große Frage ist, ob letztendlich
ausschließlich innenpolitische Faktoren den Zeitplan diktieren oder
ob auch auf die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in
Afghanistan geachtet wird.

Zehn Jahre Afghanistankrieg haben das Land nicht auf Dauer
umgestaltet. Würde ein überstürzter Abzug das erreichte Mehr an
Sicherheit gefährden?

Dr. Overhaus: Ja, ein überstürzter Abzug, der ausschließlich von
innenpolitischen Befindlichkeiten der Entsendestaaten diktiert wird,
würde das gefährden, was wir in Afghanistan bisher erreicht haben.

Am Hindukusch musste einst die Sowjetunion ihre
Supermachtambitionen beerdigen. Gefährdet Afghanistan auch die
Einheit in der NATO?

Dr. Overhaus: Die Einheit des Paktes war schon immer gefährdet,
spätestens seit den Balkan-Kriegen, aber auch schon im Kalten Krieg.
Bisher hat das nordatlantische Bündnis diese Spannungen aber immer
ausgehalten und ich denke, das wird ihm auch in der Endphase der
Afghanistan-Mission gelingen.

Washington setzte zuletzt oft auf Ad-hoc-Koalitionen der Willigen
und Fähigen. Versinkt die NATO in der Bedeutungslosigkeit?

Dr. Overhaus: Nein. Die NATO wird trotz der Bildung neuer
Ad-hoc-Koalitionen ihre Bedeutung behalten, weil sie die
Aufrechterhaltung dieser Moment-Koalitionen enorm erleichtert. Zudem
funktionierten Auslandseinsätze der NATO nach dem Ende des Kalten
Krieges immer ad hoc. Es haben sich nie alle Mitgliedstaaten
gleichermaßen an Auslandseinsätzen beteiligt. Das Bündnis
funktioniert so und das wird auch in Zukunft so sein. Entscheidender
ist, ob Amerika und Europa auch zukünftig werden gemeinsam handeln
können, ob ad hoc oder nicht.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

397702

weitere Artikel:
  • Fischer/Sendker: Öffentlich-Private Partnerschaften sind ein Erfolgsmodell Berlin (ots) - Heute debattiert der Deutsche Bundestag über Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP) im Verkehrs- und Bauwesen. Dazu erklären der verkehrs- und baupolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dirk Fischer, sowie der zuständige Berichterstatter, Reinhold Sendker: "Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP) haben sich in den vergangenen Jahren als Erfolgsmodelle bewährt. Eine Reihe von Projekten konnten dadurch schnell, effizient und unbürokratisch umgesetzt werden. Gerade nach Auslaufen der Konjunkturprogramme mehr...

  • WAZ: Die SPD schwenkt auf Merkels Kurs ein - Kommentar von Ulrich Reitz Essen (ots) - Die SPD rückt von Eurobonds ab. Das ist eine große Nachricht. Denn es ist eine komplette Kehrtwende. In dürren Worten hat der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, erklärt: "Wir sehen derzeit überhaupt keinen Bedarf für allgemeine Eurobonds zur Finanzierung europäischer Schulden, das ist nicht aktuell." Das dokumentiert zweierlei: So weit, wie bisher behauptet, kann es mit der gepriesenen länderübergreifenden Zusammenarbeit deutscher Sozialdemokraten und französischer Sozialisten mehr...

  • Ärztetag will junge Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin begeistern Berlin (ots) - Nürnberg, 24.05.2012 - "Wenn wir wieder mehr Medizinstudierende und junge Ärztinnen und Ärzte für das äußerst attraktive Berufsbild des Hausarztes begeistern wollen, müssen wir unseren jungen Kolleginnen und Kollegen vermitteln, was die Arbeit als Hausarzt so besonders macht." Das sagte Dr. Max Kaplan, Vizepräsident der Bundesärztekammer, auf dem 115. Deutschen Ärztetag in Nürnberg. Das Ärzteparlament befasste sich intensiv mit der Rolle des Hausarztes in der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung. Dabei wurden mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Bertelsmann-Stiftung Bielefeld (ots) - Umweltschutz, Wirtschaft, Sozialsystem - das sind die Kriterien, nach denen die Bertelsmann-Stiftung die Nachhaltigkeit in der Politik der Staaten beurteilen will. Fehlt da nicht was? Demokratie? Menschenrechte? Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungsprozessen? Stiftungschef Gunter Thielen sagt, das sei kein Zufall. Diktaturen hätten oft einen Effizienzvorteil. Die Demokratie mache weniger Fehler, aber dafür arbeite sie langsam. Doch braucht Nachhaltigkeit nicht gerade Zeit? In einer Diktatur ist auch eine Stiftung mehr...

  • Mitteldeutsche Zeitung: zu Fiskalpakt Halle (ots) - Natürlich geht es der Opposition auch darum, der Kanzlerin eins auszuwischen. Wenn sie ihren eigenen Fiskalpakt nicht einmal im eigenen Land ohne Zeitverzug durchbekommt, fördert dies nicht ihre ohnehin angeknackste internationale Reputation. Zu Hause verliert Merkel das Druckmittel, um die Abweichler in Union und FDP auf Linie zu bringen und den Rettungsfond ESM ohne Blessuren durchs Parlament zu bekommen. Aber SPD und Grüne können auch gute, sachliche Gründe anführen. Die Zweifel an Merkels Europa-Kurs nehmen beinah mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht