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Ein Jahr nach der EHEC-Krise: Epidemie nicht aufgeklärt, Schwachstellen nicht beseitigt - Bundesregierung betreibt Geschichtsklitterung

Geschrieben am 04-05-2012

Berlin (ots) - Ein Jahr nach der EHEC-Krise mit 53 Todesfällen im
Frühsommer 2011 ist die Epidemie noch immer völlig unzureichend
aufgearbeitet. Anders als in der gestern publizierten gemeinsamen
Bilanz der Bundesministerien für Gesundheit und Verbraucherschutz
dargestellt, ist weder der EHEC-Ausbruch aufgeklärt noch wurden die
Schwachstellen in Lebensmittelüberwachung und Gesundheitsschutz offen
analysiert, geschweige denn behoben. Zu diesem Ergebnis kommt eine
29-seitige Analyse, die die Verbraucherorganisation foodwatch heute
unter dem Titel "Im Bockshorn" veröffentlichte.

Zu Beginn der EHEC-Epidemie Anfang Mai 2011 hat weder das
Frühwarnsystem funktioniert noch die behördliche Zusammenarbeit. Am
23. Mai, als sich bereits 3.500 Menschen und damit 90 Prozent aller
Erkrankten infiziert hatten, lag dem zuständigen Robert-Koch-Institut
des Bundes lediglich eine einzige Erkrankungsmeldung vor. Die
zentrale Bund-Länder-Task-Force wurde vom
Bundesverbraucherministerium am 3. Juni eingesetzt und konnte damit
kaum noch Einfluss auf den Verlauf der längst abgeschwächten Epidemie
nehmen. Die erste öffentliche Warnung vor Bockshornklee-Sprossen
erfolgte in Niedersachsen am 5. Juni, bundesweit erst am 10. Juni.

"Die EHEC-Bilanz der Minister Bahr und Aigner ist ein Fall von
Geschichtsklitterung: Sie stellen ägyptische Sprossensamen als
quasi-erwiesene Quelle der Keime dar, obwohl es dafür keinen einzigen
Tatsachenbeleg gibt. Sie sprechen von einer erfolgreichen Bewältigung
der Krise, obwohl ein untaugliches Meldesystem das Ausmaß der
Epidemie nicht erkannt hat. Und sie loben die Zusammenarbeit von Bund
und Ländern, obwohl es dazu erst kam, als der EHEC-Ausbruch seinen
Höhepunkt längst überschritten hatte", erklärte der stellvertretende
foodwatch-Geschäftsführer Matthias Wolfschmidt.

Für die These, dass der EHEC-Erreger über verunreinigte
Bockshornklee-Samen aus Ägypten importiert und über einen
Bio-Sprossenerzeuger im niedersächsischen Bienenbüttel verbreitet
wurde, gibt es zwar Hinweise, aber keinen Beleg. Es besteht viel
Grund zu Skepsis:

- Die These stützt sich auf nur rund 300 der mehr als 3.800
Erkrankungsfälle, die an 41 Orten auftraten und auf den
Bienenbütteler Sprossenhof zurückzuführen waren, in dem Samen
aus Ägypten ausgekeimt wurden. Die Übersicht über alle Fälle hat
die von der Bundesregierung eingesetzte "Task Force EHEC" nie
veröffentlicht.
- Gerade einmal 75 von 15.000 Kilogramm der mutmaßlich
kontaminierten Samen-Chargen aus drei ägyptischen Farmen - also
0,5 Prozent - wurden an den Bienenbütteler Sprossenhof
geliefert. Offen ist, weshalb die an andere Händler in
Deutschland, Österreich, Spanien oder Schweden gelieferten Samen
aus denselben Chargen nicht zu EHEC-Infektionen führten
(lediglich aus Frankreich ist ein Ausbruch bekannt, der in
Verbindung mit den ägyptischen Samen gebracht wurde).
- Weder auf den betroffenen Samen noch auf den ägyptischen Farmen
konnte der Keim je nachgewiesen werden.

foodwatch kritisiert, dass mit der Festlegung auf die unbewiesene
Ägypten-These den Verbrauchern vermittelt werde, der Fall sei gelöst
und die Ursache des Problems liege im fernen Ägypten. "Es ist völlig
unklar, woher der Erreger kam und ob er wieder virulent werden kann",
so Matthias Wolfschmidt.

In der heute veröffentlichten EHEC-Analyse weist foodwatch nach,
dass die Behörden das bekanntermaßen von Sprossen zum Roh-Verzehr
ausgehende Risiko unterschätzt haben. So stuften die
niedersächsischen Behörden den Sprossenhof in Bienenbüttel als
"Gartenbaubetrieb" und nicht als Lebensmittelhersteller ein - mit der
Folge, dass er niedrigeren Hygienestandards und weniger strengen
Kontrollen unterworfen war.

foodwatch forderte die Bundesregierung auf, die Hygiene- und
Überwachungsstandards für sensible Rohkost (wie Sprossen oder
vorgeschnittenen Salat) denen für leicht verderbliche tierische
Lebensmittel anzupassen und regelmäßige Untersuchungen auf pathogene
E.coli-Bakterien vorzuschreiben. Zudem müssen die Meldefristen für
Erkrankungen an dem von EHEC ausgelösten HU-Syndrom erheblich
verkürzt werden. Nach der von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr
geplanten Reform könnten noch immer drei Tage vergehen, bis das
Robert-Koch-Institut des Bundes von den lokalen Gesundheitsämtern
über den Zwischenschritt Länderbehörden informiert wird. Es gibt aus
Sicht des Verbraucherschutzes keinen Grund dafür, weshalb die
Gesundheitsämter nicht gleichzeitig an Landesbehörde und RKI melden
sollten - und zwar tagesaktuell.

Weiter muss die von der EU bereits seit 2005 (!) gesetzlich
vorgeschriebene Rückverfolgbarkeit endlich durchgesetzt werden - und
zwar nicht nur für Sprossen, sondern für alle Lebensmittel. Während
der EHEC-Krise ging viel Zeit für die Rekonstruktion von Lieferwegen
und Warenströmen verloren. Schließlich muss die Struktur der
Lebensmittelüberwachung endlich den globalen Warenströmen im
Lebensmittelmarkt angepasst werden, indem auf Landesebene die Fach-
und Dienstaufsicht für sämtliche Überwachungstätigkeiten
zusammengefasst wird. Dadurch lägen alle Kompetenzen,
Durchgriffsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten bei der jeweiligen
Landesregierung. Eine bundesweite Koordinierungsstelle (Task Force)
ist sinnvoll, kann jedoch auf Landesebene zentral organisierte
Strukturen der Lebensmittelüberwachung und des Öffentlichen
Gesundheitsdienstes nicht ersetzen.

Der EHEC-Ausbruch begann Anfang Mai 2011. Dem Ausbruchgeschehen
wurden bis Ende Juli 2011 insgesamt 2.987 Fälle von
EHEC-Gastroenteritis und 855 Erkrankungen an dem schweren
hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) zugeordnet, zusammen also 3.842
Erkrankungen; 53 Menschen starben. Auslöser der Epidemie war der
vorher kaum auffällige E.coli-Stamm EHEC O104:H4, der gegen
Magensäure und Antibiotika weitgehend resistent ist.

Link:

Die foodwatch-Analyse zur EHEC-Epidemie steht unter
http://bit.ly/JXEYfj zum Download bereit (direkt zur pdf-Datei:
http://bit.ly/Ix4Zln).



Pressekontakt:
foodwatch e.V.
Martin Rücker
E-Mail: presse@foodwatch.de
Tel.: +49 (0)30 / 24 04 76 - 23
Fax: +49 (0)30 / 24 04 76 - 26


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