(Registrieren)

Landeszeitung Lüneburg: ,,Es ist zu früh, die FDP abzuschreiben": Interview mit dem Parteienforscher Prof. Dr. Uwe Jun

Geschrieben am 29-03-2012

Lüneburg (ots) - Piraten auf Enter-Kurs, Liberale auf einer
"Mission impossible"; eine Mehrheit links der Mitte, die zum Tabu
erkÌärt wurde. Volksparteien, die die Sicherheit der großen Koalition
Experimenten vorziehen: Die Wahl an der Saar weist weit mehr Aspekte
auf als nur landespolitische. Parteienforscher Prof. Jun von der Uni
Trier glaubt, dass die FDP sogar einen Sturz aus dem Bundestag
überleben könnte. "Der politische Liberalismus hat einen Platz im
Parteiengefüge."

Im Saarland wurden SPD und CDU von 90 Prozent vor zwanzig Jahren
auf knapp zwei Drittel gestutzt. Führt eine zunehmende soziale
Zerklüftung zu einer Zerklüftung des Parteiensystems?

Prof. Dr. Uwe Jun: Zumindest können wir seit nunmehr drei
Jahrzehnten konstatieren, dass es den beiden großen Parteien immer
weniger gelingt, unterschiedliche Sozialmilieus und Lebensstile zu
integrieren. Die Gesellschaft differenziert sich in immer mehr
Lebensstil-Gruppen mit eindeutigen Tendenzen der Individualisierung
aus. Ein Trend, der bei den Jüngeren noch stärker ist als bei den
Älteren. In der Vergangenheit konnten die Großparteien diese
verschiedenen Milieus zumindest teilweise in einem Gefüge vereinen.
Das schaffen sie immer weniger. Allerdings sind auch den
Fragmentierungstendenzen Grenzen gesetzt. Ihren vorläufigen Tiefpunkt
haben die Großparteien vermutlich 2009 durchschritten. Wenn man die
Daten von Umfragen und der Wahlen, etwa im Saarland, vergleicht,
erkennt man, dass SPD und CDU im Vergleich zu vor drei Jahren
dazugewonnen haben. Dennoch wird der Trend weiter in die Richtung
gehen, dass sich die soziale Fragmentierung in der Parteienlandschaft
abbildet.

Macht die Erosion klassischer Wählermilieus und der Aufstieg
kleiner Parteien die Regierungsbildung schwieriger, so dass als
Ausweg nur die große Koalition bleibt?

Prof. Jun: Ja, aber selbst im Saarland wäre rechnerisch eine
andere Zwei-Parteien-Koalition möglich gewesen. Aber diese wird von
der SPD zurzeit politisch offensichtlich nicht gewollt. Das Ende der
Zwei-Parteien-Koalitionen außerhalb großer Koalitionen erkenne ich
nicht. Der Wähler ist unberechenbarer geworden, er handelt
situativer, sodass auch klassische Zwei-Parteien-Bündnisse möglich
sind. Das kann schon am 13. Mai mit Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen
eintreten. Koalitionen mit mehr als zwei Parteien sind tendenziell
schwieriger, weil immer mehr Akteure mitmischen, weil immer mehr
Interessen und Meinungen zu politischen Problemlösungen
zusammengebracht werden müssen. Diese Koalitionen kommen schwerer
zustande und sind instabiler. So konnten wir feststellen, dass bisher
alle Koalitionen, in denen die Grünen in einer lagerübergreifenden
Konstellation eingebunden waren -- also zusammen mit der CDU oder der
FDP -- vorzeitig zerbrochen sind.

Ampeln und Jamaika sind noch keine verheißungsvollen Alternativen.
Haben die politischen ebenso wie ökonomische Eliten den Sinn für den
Kompromiss verloren?

Prof. Jun: Das wäre überinterpretiert. Der Sinn für den Kompromiss
ist nicht verloren gegangen, aber der Kompromiss ist schwieriger
aushandelbar, weil die Interessen und Meinungen heterogener geworden
und somit schwieriger auf einen Nenner zu bringen sind. Nach Berlin
waren Sie noch skeptisch, dass die Piraten mehr sind als eine
Eintagsfliege. Sind sie nach dem Saarland mehr als eine
Zweitagsfliege? Prof. Jun: Für die Piraten bin ich optimistisch, was
die Aussichten bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und
Nordrhein-Westfalen betrifft. Was ich unterschätzt habe, ist, dass
die mediale Aufmerksamkeit auch außerhalb des Web 2.0 so stark
greift. Dieser Partei, die unverbrauchte Andersartigkeit
repräsentiert, gelang es in den vergangenen Wochen, sowohl junge
Wählerschichten anzusprechen als auch Gruppen, die sich im bisherigen
Parteienspektrum nicht repräsentiert fühlten, aber zugleich ihre
Stimme auch nicht an Splitterparteien verschenken wollten. Aufgrund
der medialen Präsenz der Piraten bedurfte es auch keines genuinen
Milieus, wie es etwa im ländlich geprägten Saarland fehlt.

Kann die Attitüde unverbrauchter Andersartigkeit über eine ganze
Legislaturperiode Inhalt ersetzen?

Prof. Jun: Das wird schwer für die Piraten, weil sich irgendwann
der Effekt des Neuen verliert. Ab dann wird man daran gemessen, was
man an politischen Kompetenzen und Aktivitäten aufzuweisen hat. In
ihrer Findungsphase sehen die Wähler den Piraten noch nach, dass es
ihnen an Problemlösungskompetenz fehlt. Doch diese Nachsicht ist
nicht von Dauer.

FDP-Generalsekretär Döring nennt es "Tyrannei der Masse", verweist
das Piratenprofil eher auf "Demokratie 2.0"?

Prof. Jun: Die Piraten wollen eindeutig mehr Partizipation, sehen
das Web dazu als Werkzeug an. Ein Schwachpunkt des Piratenkonzeptes
ist, dass sich nur derjenige stärker beteiligen kann, der über
entsprechendes technisches Know-how und entsprechende Ausstattung
verfügt. Hier ist ein Generationenkonflikt erkennbar: Ältere, weniger
technikaffine Bürger müssen auf mehr Teilhabe verzichten. Zugleich
soll das Internet nach den Vorstellungen der Piraten für mehr
Transparenz bei Politikentscheidungen sorgen. Ich habe Zweifel, ob
das wirklich sachdienlich wäre, aber zumindest ist es ein anderer
Politikstil, der offenbar für viele attraktiv ist.

Stärkung der Bürgerrechte, mehr Demokratie und Transparenz sind
Forderungen, die auch Liberale unterschreiben könnten. Werden sie
auch inhaltlich von den Piraten geentert?

Prof. Jun: Nein, nur zum Teil. Zwar hat die FDP auch mal in
Aussicht gestellt, einen anderen Politikstil in Richtung von mehr
Transparenz zu pflegen, wobei die Vorbereitung auf die digitale
Demokratie bei der FDP keine nennenswerte Rolle spielte. Zudem hat es
die FDP versäumt, ihren Status als Bürgerrechtspartei kenntlich zu
machen, weil sie sich selbst auf den Wirtschaftsliberalismus
verengte. Damit hat die FDP auch Hoffnungen enttäuscht.

Wie kann mehr digitale Demokratie praktiziert werden, ohne dass
ein Stuttgart-21-Effekt entsteht, dass eine engagierte Minderheit zur
gefühlten Mehrheit wird?

Prof. Jun: Das kann nur funktionieren, wenn man
ad-hoc-Veranstaltungen keine so große Beachtung schenkt, sondern
indem man web-basiert Partizipationsmöglichkeiten schafft, die auch
breiteren Bevölkerungsschichten offenstehen. Dies ist in Stuttgart
zunächst unterblieben, wo sich zu Beginn vor allem die Betroffenen zu
Wort gemeldet hatten. Was die Piraten "liquid democracy" nennen, geht
allerdings darüber hinaus, fordert nämlich institutionalisierte
Strukturen, in denen weite Teile der Bevölkerung zu bestimmten Zeiten
ihre Meinung kundtun können.

Graben die Piraten mit diesem Ansatz den Grünen den Nachwuchs ab?

Prof. Jun: Das ist für die Grünen ein zentrales Problem. Bis vor
einigen Jahren wurden die Grünen noch stark von Erst- und Jungwählern
bevorzugt. Mittlerweile verfestigt sich aber ein Trend der letzten
Jahre: Die Grünen werden grauer. Mittlerweile sind die Grünen eher
ein Projekt älterer Wähler. Die Eltern vieler Piraten-Wähler stehen
den Grünen nahe. Sollten sich die Piraten im Parteiensystem
etablieren, räubern sie direkt im genuinen Nachwuchsbereich der
Grünen.

Richtig grau waren die Gesichter der jungen FDP-Garde nach der
Saarlandwahl. Wird die FDP überflüssig?

Prof. Jun: Die FDP muss zumindest aufpassen, dass sie ihre
Position bewahrt. Aber ich denke, dass der politische und der
Wirtschaftsliberalismus -- für den die FDP in den vergangenen Jahren
vor allem stand -- noch einen Platz im Parteien"gefüge hat. Nur darf
sich die FDP nicht weiter thematisch verengen, wie sie es tat, als
sie den Wirtschaftsliberalismus noch mal auf das Thema Steuersenkung
reduzierte. Dies war besonders fatal, weil zugleich eine klare
wirtschaftspolitische Position der FDP etwa in der Euro-Krise
vermisst wurde. Die FDP hat durchaus eine Chance, wenn sie ihren
wirtschaftsliberalen Schwerpunkt durch andere Programmpunkte ergänzt.
Selbst, wenn die FDP nach 2013 nicht mehr im Bundestag vertreten sein
sollte, ist sie noch nicht abzuschreiben.

Wäre es fatal für eine Parteiendemokratie, wenn der organisierte
Liberalismus auf Dauer zertrümmert wird?

Prof. Jun: Es wäre bedauerlich, aber ich kann es mir nicht
vorstellen. Denn: Die Gesellschaft sucht sich ihre Parteien. Würde
eine andere Formation liberale Ideen vertreten, könnte sie bei Wahlen
erfolgreich sein. Noch hat die FDP die Chance, weil sie als quasi
"eingeführte Marke" bei den Wählern präsent ist. Sie muss aber diese
"eingeführte Marke" einer Veränderung unterziehen.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

386998

weitere Artikel:
  • Mittelbayerische Zeitung: Mit gefalteten Händen statt erhobener Faust Regensburg (ots) - Von Wolfgang Ziegler Der Papst ist nicht Gott, sondern Mensch - wenngleich er als Stellvertreter Christi gilt. Den teilweise völlig konträren Erwartungshaltungen, die vor seiner Visite in Kuba von allen Seiten definiert worden waren, konnte Benedikt XVI. deshalb gar nicht gerecht werden. Da hatte sich die Castro-Regierung von seinem Aufenthalt eine Aufwertung und eine Anerkennung versprochen - auch dafür, dass die Religionsfreiheit im Land seit dem Besuch von Papst Johannes Paul II. vor 14 Jahren weitgehend mehr...

  • Westfalenpost: Kommentar zu Südwestfalen / Sauerland / Westfalen /Werbebotschaft für Südwestfalen gesucht / Wir sind so - alles echt /Von Joachim Karpa Hagen (ots) - text Wer sind wir? Sauerländer, Siegerländer und Wittgensteiner - oder einfach Westfalen. Vielleicht zählt eher der Heimatort bei der gefühlten Beschreibung der Herkunft. Also sind wir Schmallenberger, Berleburger, Arnsberger. Alles richtig. Irgendwie. Aber die große weite Welt kann damit nicht viel anfangen. Das ist nicht griffig, das kennt man nicht, das klingt nach Provinz. Wer um die Köpfe nachfolgender Generationen wirbt, braucht eine Botschaft. Frech und spritzig soll sie sein und muss sich im Kopf festsetzen. mehr...

  • Westfalenpost: Kommentar zu Energie /Umwelt /Umweltminister gibt Wald für Windernte frei /In NRW hat sich der Wind gedreht /Von Wilfried Goebels Hagen (ots) - Der Wald hat für den Deutschen hohe Symbolkraft. Wenn Umweltminister Johannes Remmel die Wälder für den Bau von Windrädern öffnet, rüttelt er an einem Tabu. Das Landschaftsbild verändert sich, längst nicht jeder Tourist und jeder Anwohner wird die riesigen Windspargel über den Baumkronen als Bereicherung oder als optischen Reiz empfinden. Die Energiewende hat ihren Preis. Wer sauberen Strom will, muss die Windräder akzeptieren. Im dicht besielten NRW reichen die Vorrangflächen für Anlagen außerhalb der Wälder schlicht mehr...

  • Ostsee-Zeitung: Kommentar zum Scheitern der Schlecker-Hilfe Rostock (ots) - Wochenlang hatten die Schlecker-Mitarbeiter gebangt doch am Ende war alles vergebens: Bundesweit mehr als 10 000 Beschäftigte der Drogeriekette werden in den kommenden Tagen ihre Kündigung im Briefkasten finden. Denn Bayern macht nicht mit bei der länderfinanzierten Auffanglösung. Die mitregierende FDP, Zünglein an der Waage, ist gegen die nötige Bürgschaft. Doch ohne Bayern kommt die Garantie für einen Kredit von 70 Millionen Euro für eine rettende Transfergesellschaft nicht zustande. Das heißt auch: keine Lohnfortzahlung, mehr...

  • Südwest Presse: KOMMENTAR · SCHLECKER Ulm (ots) - Für die Gralshüter der Marktwirtschaft ist die Welt seit gestern wieder in Ordnung. Mit ihrem Nein zu den Schlecker-Bürgschaften haben die FDP-Wirtschaftsminister in Niedersachsen, Sachsen und zuletzt in Bayern gezeigt, dass auf ihre Linientreue Verlass ist. Wäre ja noch schöner, wenn "Willkür", "Gutsherrenart" und "Planwirtschaft" um sich greifen würden, so ähnlich hat es Bayerns Wirtschaftsminister Martin Zeil formuliert. Für die 10 000 Mitarbeiter, vor allem sind es Frauen, bedeutet diese Haltung vor allem eines: mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht