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Landeszeitung Lüneburg: Hunger ist Menschenwerk / Experte Benedikt Haerlin: Wenn wir in der Landwirtschaft umsteuern, macht die Erde uns noch lange satt

Geschrieben am 11-08-2011

Lüneburg (ots) - Am Horn von Afrika stirbt derzeit in manchen
Gebieten alle sechs Minuten ein Kind an Hunger. Millionen Menschen
sind bedroht, Zehntausende auf der Flucht. Kein Land ist dabei so
schlimm betroffen wie Somalia. Die Apokalypse in Ostafrika lässt
vergessen, dass weltweit mehr als eine Milliarde Menschen hungern.
Unnötig, meint Benedikt Haerlin, einer der Autoren des ersten
Weltagrarberichtes. Wenn der Tank nicht Vorrang bekäme vor dem Teller
und das Steak nicht vor dem Getreide, könnte die Erde noch mehr
Milliarden Menschen ernähren, meint Haerlin.

Ist der Hunger in Ostafrika unabwendbares Schicksal oder zumindest
zum Teil Menschenwerk?

Benedikt Haerlin: Ostafrika erlebt seit Jahrhunderten solche
verheerenden Dürren. Der Klimawandel wird die Lage weiter
verschärfen. Heute haben wir anders als vor 100 Jahren aber durchaus
die Möglichkeit, solchen Naturkatastrophen zu begegnen, ohne dass
Menschen sterben müssen. Der Hunger in Ostafrika ist deshalb zum
größten Teil Menschenwerk. Das Werk von Bürgerkriegsherren,
kriminellen Eliten, einer nicht existierenden Regierung, aber auch
von Hilfsorganisationen, die viel zu spät aktiv wurden, obwohl
bereits seit einem Jahr von der Welternährungsorganisation FAO vor
einer drohenden Hungersnot gewarnt wurde.

Wieso gelingt es dennoch nicht, schon frühzeitig Hilfe für Hirten
zu organisieren, bevor deren Herden verhungern?

Haerlin: Das müssen Sie die Verantwortlichen vom World Food
Programme und anderen Hilfsorganisationen fragen. Es hat damit zu
tun, dass finanzielle Mittel immer erst dann fließen, wenn es Bilder
von dem Elend gibt. Dieser mediale Katastrophen-Zynismus macht
frühzeitiges Eingreifen schwierig, aber nicht unmöglich.

Werden wir satten Völker immer nur dann kurz aufmerksam, wenn
Bilder verhungernder Kinder über den Bildschirm flimmern?

Haerlin: In der Tat. Das ist besonders fatal, weil die große
Mehrheit der Hungernden -- anders als derzeit in Ostafrika -- nicht
unter extremen Bedingungen in Auffanglagern lebt und keine
Fernsehteams anlockt. Die meisten verhungern unbeachtet. Das Gros der
fast 1 Milliarde Hungernden weltweit verhungert zwar nicht, leidet
aber unter extrem eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten, kann an
nichts anderes denken, als wie sie an die nächste Mahlzeit kommen.
Gerade die Kinder sind davon fürs Leben gezeichnet. Der Zugang zu
Bildung, sozialer Mindestabsicherung und Produktionsmitteln ist nur
theoretisch, wenn das Menschenrecht auf gesunde und ausreichende
Ernährung nicht erfüllt ist.

Wie groß ist bei diesem "Hintergrundhunger" die Rolle verfehlter
Agrarpolitik der afrikanischen Länder selbst?

Haerlin: Fehler der Regierungen spielen eine wesentliche Rolle,
aber man darf dabei nicht nur auf Afrika blicken. Zwei Drittel aller
Hungernden leben in Asien. Ein Viertel allein in Indien, über zehn
Prozent in China, in aufstrebenden Nationen also mit boomender
Ökonomie, die genug Geld haben, um alle ihre Bürger ausreichend zu
ernähren. In Afrika selbst ist eine über Jahrzehnte verfehlte
Agrarpolitik zu beklagen. Das wurzelt in der Ignoranz der städtischen
Eliten, die die Kolonialherren abgelöst haben, gegenüber der
Landbevölkerung. Bauern und Hirten werden in vielen dieser
Gesellschaften auf eine Art und Weise verachtet, die ja auch in
Europa bis ins 19. Jahrhundert anzutreffen war. Schuld sind aber auch
die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, die den
Agrarsektor jahrzehntelang vernachlässigt und auf globale Märkte
setzten, die vollkommen versagt haben.

Müsste Spekulanten der Zugriff auf Nahrungsmittel grundsätzlich
entzogen werden?

Haerlin: Die Spekulation mit Lebensmitteln spielt vor allem für
die Armen und teilweise sogar den Mittelstand in der Stadt eine
Rolle. Hier steigen die Nahrungsmittelpreise empfindlich, wenn
Spekulanten den Markt anheizen und werfen die Schichten, die sich
gerade aus der absoluten Armut befreit hatten, auf Not und Hunger
zurück. In den Metropolen können sie auf die Straße gehen und vor den
Regierungspalast. Sprunghaft angestiegene Lebensmittelpreise waren so
der Ausgangspunkt des arabischen Frühlings. An vielen Armen auf dem
Lande hingegen geht der Weltmarkt weitgehend vorbei. Die Spekulation
mit Nahrungsmitteln wird auch dadurch gefördert, dass heute Nahrung
und Energie austauschbar werden. Man kann mit Mais Sprit herstellen
oder Menschen ernähren. Entscheidet sich dies danach, wer mehr
bezahlt, kommt meist der Tank vor dem Teller.

Liegt hier der Grund dafür, dass die Zahl der Hungernden seit 2002
steigt, obwohl die Bauern der Welt ein Drittel mehr Kalorien
produzieren als man bräuchte, um alle Menschen zu ernähren?

Haerlin: Das muss man sich tatsächlich immer wieder klar machen:
Global gesehen haben wir eine Situation krasser Überproduktion von
Nahrungsmitteln. Es gibt Berechnungen, nach denen die Menge der heute
produzierten landwirtschaftlichen Produkte zwölf Milliarden Menschen
ernähren könnte, fast das Doppelte der heutigen Weltbevölkerung.
Verschwendet wird zum einen bei den Nachernte-Verlusten, also dass in
tropischen Ländern Nahrung verrottet, weil sie nicht anständig
gelagert oder transportiert werden kann. Am meisten verschwenden wir
in den Industrieländern, wo rund ein Drittel der fertig produzierten
Lebensmittel weggeworfen werden. Ein weiterer Punkt ist die
Umwandlung von pflanzlichen in tierische Kalorien. Über ein Drittel
der Getreideernte der Welt wird an Tiere verfüttert. Dabei gehen
Kalorien verloren in einem Verhältnis von 2:1 bei Geflügel, 3:1 bei
Schweinen, Zuchtfischen, Milch und Eiern sowie 7:1 bei Rindern.

Auch wenn sich der Düngereinsatz nicht mehr erhöhen und die
Nutzfläche nicht ausweiten lässt, könnten wir mit einer effektiven
Verteilung und einer Änderung der Lebensweise auch die in wenigen
Jahren auf neun Milliarden anwachsende Menschheit ernähren?

Haerlin: Selbstverständlich sind wir imstande, uns alle bestens zu
ernähren. Aber wir müssen unsere industrielle Landwirtschaft
umstellen, die dem Prinzip folgt, einfach immer mehr zu produzieren.
Wir brauchen ein Konzept, genug für alle mit geringstem
Ressourceneinsatz zu produzieren. Das verschwenderische Übermaß und
der bittere Mangel sind zwei Seiten derselben Medaille.

Fast 40 Prozent aller Klimakiller werden in Zusammenhang mit der
Lebensmittelproduktion in die Atmosphäre geblasen. Wie kann man
Klimaschutz und Kampf gegen den Hunger versöhnen?

Haerlin: Dafür gibt es kein Patentrezept, da müssen Tausende von
Einzelmaßnahmen ineinandergreifen. Die wesentlichen Punkte sind:
Erstens die massive Reduzierung des Einsatzes von Kunstdünger auf
Stickstoffbasis. Das ist eine der ganz großen Emissionsquellen, weil
die Überreste des Ammoniaks als Lachgas in die Atmosphäre entweichen.
Zudem ist ein hoher Energieaufwand erforderlich, um diesen
Kunstdünger herzustellen. Zweitens müssen die Anbaumethoden geändert
werden. Beispielsweise darf der Boden nicht nackt -- ohne Bewuchs --
daliegen gelassen werden, weil ihm ansonsten massiv CO2 entweicht.
Drittens produzieren wir in den Industrieländern deutlich zu viel
Fleisch. Zum einen zulasten unserer Gesundheit selbst. Zum anderen
für das Klima. Fleisch ist einer der größten Klimakiller. Viertens
müssen wir die Wege verkürzen, auf denen wir unsere Lebensmittel
transportieren. Fünftens muss der Verarbeitungsgrad der Lebensmittel
gesenkt werden. Die Energiebilanz eines Fertigproduktes samt
Transport und der letztendlich wegzuwerfenden Verpackung ist
verheerend gegenüber frischen, weitgehend unbehandelten
Nahrungsmitteln.

Die Klimaerwärmung lässt den Wüstengürtel längs des Äquators
wachsen. Das bedroht Kornkammern der Menschheit im Mittleren Westen
der USA, im südlichen Australien und im Norden Indiens. Wirft der
Klimawandel alle Konzepte gegen den Hunger über den Haufen?

Haerlin: Der Klimawandel zwingt uns, Abschied zu nehmen von
Monokulturen, die wir über vierzig Jahre zugelassen haben. Hier ist
das Risiko des Totalausfalls in einer Missernte am größten. Er zwingt
uns auch, umzudenken bei der Frage, was wir künftig für Getreide oder
Ölfrüchte anbauen. Gegenwärtig machen Reis, Weizen und Mais 80
Prozent unserer gesamten Getreideernte aus. Es gibt aber 300
verschiedene Getreidesorten, von denen viele besser für die
Klimaerwärmung geeignet sind oder sich besser anpassen lassen. Wir
müssen im Treibhaus Erde auf Vielfalt setzen. Zudem gehört in der Tat
die Zeit der Vergangenheit an, in der wir sicher mit großen zu
importierenden Ernteüberschüssen anderer Länder rechnen konnten. Der
Mittlere Westen der USA, Lateinamerika und auch Australien werden
erhebliche Ernteausfälle zu verzeichnen haben. Europa muss also
darauf achten, sich selbst ernähren zu können. Heute ist Europa zu 70
Prozent abhängig von Eiweißfrüchten, die wir aus Lateinamerika
importieren. Angesichts der Unwägbarkeiten des Klimawandels ist es
wichtig, sich frühzeitig in jeder Region aller Optionen zu
vergewissern, um dann gewappnet zu sein.

Das Interview führte

Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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