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BERLINER MORGENPOST: Ein Abgang mit vielen Fragezeichen - Leitartikel

Geschrieben am 31-05-2010

Berlin (ots) - Was ist denn das nun wieder? Deutschland taumelt im
Lena-Rausch, der die Afghanistan-Einlassungen des Bundespräsidenten
fast schon wieder ins Archiv gedrängt hatte, da macht Horst Köhler
aus einer nahezu vergessenen Fliege eine politische Granate und
erklärt seinen sofortigen Rücktritt. Dieser Vorgang ist in der
Geschichte der Bundesrepublik einzigartig, auch wenn Heinrich Lübke
1968 ebenfalls seinen Amtsverzicht bekannt gegeben hatte. Lübkes
Rückzug erfolgte allerdings eher symbolisch, kurz vor Ende seiner
zweiten Amtszeit. Ihm hatte die anhaltende Kritik an seiner Rolle als
Bauleiter im Zweiten Weltkrieg zugesetzt, zudem begünstigte eine
Durchblutungsstörung im Gehirn offenbar rhetorische Ausrutscher. Nun
also Köhler. Ernsthaft krank scheint er nicht. Aber zutiefst verletzt
- oder auch nur ziemlich beleidigt. Seinen historischen Schritt
begründete er mit mangelndem Respekt vor dem höchsten Staatsamt -
wessen Respekt, das hat er nicht gesagt. Vergangene Woche hatte der
zukünftige Ex-Präsident in ziemlich verschwurbelter, jedenfalls aber
missverständlicher Weise im Deutschlandradio auch die Sicherung von
Handelswegen zur Aufgabe der Bundeswehr definiert. Das war kein
Staatsakt, aber allemal unglücklich. Weder Kanzlerin noch Minister
waren dem Staatsoberhaupt beigesprungen, während die Opposition
genüsslich von Kanonenbootpolitik und Grundgesetzesbruch sprach. So
einsam war selten ein Präsident, und die Kanzlerin hat diese, seine
Demütigung billigend in Kauf genommen. Es darf von einer Staatskrise
gesprochen werden, wenn die Kommunikation zwischen Kanzleramt und
Präsidentenschloss, Luftlinie ein guter Kilometer, offenbar derart
gestört ist, dass sich der Präsident zu einem solch ungewöhnlichen
Schritt veranlasst sieht. Eindeutig ist der Rücktritt zuerst an die
Adresse der Bundeskanzlerin gerichtet. Nun rächt sich, dass die
damaligen Oppositionsführer Westerwelle, Stoiber und eben Merkel 2004
einen Präsidentschaftskandidaten erfunden haben, der weniger
inhaltlichen als vielmehr strategischen Kriterien genügte, weil er
unpolitisch und mithin ungefährlich war. Wolfgang Schäuble wäre der
richtige Kandidat gewesen, aber Köhler war der machtpolitisch
wichtigere. Köhlers Knall hat demnach weniger mit der kurzfristigen
Causa Afghanistan zu tun als vielmehr mit der langfristigen
Instrumentalisierung durch die Tagespolitik, von der Vorgänger
Johannes Rau schon nicht frei war. Als Mitglied der merkelschen
Boygroup, die ergeben nach dem Taktstock der Chefin tanzt, war sich
Köhler zu schade. So ist sein Schritt auch als Akt der Selbstachtung
zu verstehen. Er hatte keine Lust mehr, eine Figur im Spielchen der
Regierung darzustellen. Dennoch: Köhler hat sich und dem Amt mit
seinem Rücktritt keinen Gefallen getan. In jenem inkriminierten
Interview hatte er begrüßt, dass in Deutschland über den
Afghanistan-Einsatz "immer wieder auch skeptisch mit Fragezeichen
diskutiert wird". Ebenso skeptisch und mit Fragezeichen darf man auch
über den Präsidenten und seine Sätze diskutieren. Nicht jede Kritik,
oder unterlassene Hilfeleistung, bedeutet automatisch mangelnden
Respekt. Ein Präsident muss Debatten aushalten, selbst wenn sie mal
eine Weile gegen ihn laufen. Zumal der Redner Köhler auch nicht nur
mit Wattebäuschen warf, sondern manches rhetorische Monster zum
Zwecke des medialen Aufruhrs gebar. Es liegt nahe, dass das
verunglückte Statement nur ein Vorwand war, um sich aus einem Amt
zurückzuziehen, das offenbar eine Nummer zu groß war für den
politischen Beamten Köhler. Seine Rolle als mahnender Mittler
zwischen Politik und Volk hat er nie gefunden, sich stattdessen
bisweilen anbiedernd auf den erstbesten naheliegenden Standpunkt
gestellt. Moralische, intellektuelle oder emotionale Führung ist
Köhler nur selten gelungen, weder nach außen und schon gar nicht ins
Schloss Bellevue hinein. Heerscharen von Mitarbeitern verließen das
Präsidialamt, wo Köhler auch mal unwirsch regiert haben soll. Er war
ein unbequemer Präsident, aber eben nicht so, wie er es sich
gewünscht hätte. Was bleibt, ist das Befremden, mit welcher
Leichtigkeit sich der höchste Repräsentant des Landes aus dem Staub
macht. Mit der von ihm selbst so hoch geschätzten Verantwortung ist
es bei Köhler selbst offenbar nicht so weit her. Die eigene
Befindlichkeit siegt über den Pflichtmenschen. War dem freiwilligen
Abschied der Bischöfin Käßmann noch Respekt zu zollen, war der
Rücktritt von Roland Koch noch nachvollziehbar, so löst Köhlers
übereiliger Schritt vor allem Unverständnis aus. Fakt ist: Nicht die
öffentliche Debatte hat das Amt beschädigt, sondern Köhler selbst,
mit seinem Entschluss, seinen Posten so leichtfertig aufzugeben.
Andererseits: Besser, er geht jetzt, als dass seine mangelnde
Krisenfestigkeit in einer wirklich heiklen Situation zutage tritt.
Die Aufgabe für eine ohnehin gebeutelte Kanzlerin besteht nun darin,
einen Kandidaten aus dem Hut zu zaubern, der die komplexe Gemengelage
im Land repräsentiert und den Eindruck zerstreut, die Kanzlerin habe
ein wachsendes Team-Problem: Kommt Koch, Wulff, Stoiber, Rüttgers
oder am Ende doch Schäuble? Das wiederum ist das Beruhigende an
diesem Rücktritt: Köhler hat noch nicht mal seine Umzugskartons aus
dem Schloss gewuchtet, da geht die nächste Postendebatte schon los.
Ein stabiles System, dieses Deutschland.

Originaltext: BERLINER MORGENPOST
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/53614
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_53614.rss2

Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de


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