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Landeszeitung Lüneburg: Christian Wulff, CDU-Bundesvize und Niedersachsens Ministerpräsident, zu Revolverkapitalismus und dem Eingreifen des Staates in Krisenzeiten.

Geschrieben am 27-05-2010

Lüneburg (ots) - Der Landesrechnungshof vermisst bei Ihnen
brutalstmöglichen Sparwillen. Warum bauen Sie nicht 26000 Stellen in
der Verwaltung ab -- wie vorgeschlagen?

Wulff: Wir haben seit 2003 insgesamt 6700 Stellen in der
Verwaltung reduziert, auch durch die Abschaffung der
Bezirksregierungen. Das waren keine populären, aber notwendige
Entscheidungen, um uns für die Zukunft zu wappnen. So haben wir heute
3000 Lehrerstellen mehr, mehr Stellen an den Hochschulen und vor
allem in der frühkindlichen Bildung. Das ist ein ausgesprochen
nützlicher Bericht des Landesrechnungshofes, aber das Kabinett wird
ihn nicht 1:1 umsetzen. Der Rechnungshof ist ein wichtiger Mahner,
aber die politischen Entscheidungen werden im Parlament gefällt. Wir
können sicher nicht bei schrumpfender Bevölkerung im selben Umfang
Stellen im Landesdienst reduzieren. Das wäre nicht verantwortlich.

Droht ein demografischer GAU, wenn in einigen Jahren viele Beamte
gleichzeitig in Pension gehen?

Wulff: Wir richten uns darauf ein, jetzt ausreichend
Polizeianwärter und Lehrer zu gewinnen, um für die Zeit gewappnet zu
sein, wenn viele in diesen Bereichen aus dem Dienst ausscheiden. Wir
haben eine langfristige Personalplanung in den Ressorts. Es sind die
vom Landesrechnungshof genannten demografischen Veränderungen, die
uns bewogen haben, Schüler künftig schneller ins Berufsleben zu
entlassen und länger arbeiten zu lassen. Es wäre schön, wenn ein
Landesrechnungshofbericht dazu beiträgt, der Bevölkerung die Augen zu
öffnen, dass die Verkürzung der Ausbildungs- und die Verlängerung der
Lebensarbeitszeit das Richtige sind.

Nun ist die demografische Keule nicht die einzige Herausforderung.
Sie haben die "Initiative Niedersachsen 2010" angeschoben. Müssen
Politik und Wirtschaft stärker verzahnt werden, um der
Wirtschaftskrise zu begegnen -- ähnlich wie in Japan?

Wulff: Wirtschaftsführer begegnen uns Politikern heute etwas
respektvoller, weil sie gesehen haben, dass es ohne die Politik nicht
geht. Weil die Politik Rettungsschirme aufgespannt hat, weil sie mit
der Umweltprämie und dem Kurzarbeitergeld kluge Entscheidungen
getroffen hat. Früher herrschte eine weitverbreitete Haltung vor: So
wenig Staat wie möglich. Heute weiß man, ein verlässlicher
Rechtsstaat und innerer Frieden sind Werte an sich. Unsere Aufgabe
als Politiker ist es auch, niedersächsische Unternehmen im Ausland zu
begleiten, sie zu internationalisieren. Noch 1995 verdienten deutsche
Unternehmen jeden dritten Euro im Ausland, mittlerweile ist es jeder
zweite. Immer mehr Mittelständler verdienen im Ausland Geld, um ihre
heimischen Standorte zu stärken. Und bei diesem Gang ins Ausland sehe
ich eine Verzahnung von Politik und Wirtschaft. So fahre ich im Juli
mit einer 96-köpfigen Delegation nach China -- zum dritten Mal. Dort
können wir Politiker wirtschaftliche Kontakte fördern.

In der Krise sank das BIP in Niedersachsen weniger stark als in
den anderen alten Bundesländern. Wo liegen die Stärken
Niedersachsens?

Wulff: Wir sind sehr stark in den Bereichen Ernährungsin"dus"trie,
Energiewirtschaft, Erholung, Gesundheit und Mobilität -- Schiffe,
Flugzeuge, Autos. Sehr stark ist natürlich auch unser Mittelstand.
Aber fairerweise müssen wir dazu sagen, dass sich auch in der
Vergangenheit Krisen früher in den stärker exportorientierten
Bundesländern auswirkten -- wie Baden-Württemberg. Dafür hinkten wir
dann beim Überwinden der Krise etwas hinterher. Wir arbeiten daran,
dass sich Letzteres ändert.

Sie sagten, der Respekt der Wirtschaft sei gewachsen. Brachte die
Krise das Comeback des starken Staates?

Wulff: Es wächst die Erkenntnis, dass es Regeln und Kontrolle
bedarf. Das Ideal des freien Spiels der Kräfte wurde als Trugbild
entlarvt. Das Ringen der Finanzmarktplätze um die größtmögliche
Attraktivität für Anleger hat zu einem Revolverkapitalismus geführt.
Die fehlende Kontrolle ermöglichte das Entstehen von
Abzockerstrukturen. In Deutschland können wir froh sein, Sparkassen
und Genossenschaftsbanken zu haben, die sich an diesem Spiel nicht
beteiligt haben. Das gewährleistet die Kreditvergabe an den
Mittelstand.

Sie sprachen Ihre Türöffnerfunktion in China an. Noch 2008 hatte
Roland Koch die große Koalition für ihren Umgang mit dem Dalai Lama
kritisiert. Menschenrechte gingen nicht über Geschäfte mit China.
Hätte er Ihren Trip auch attackiert?

Wulff: Nein. Die Vertiefung der Wirtschaftskontakte unterstützte
die Öffnung Chinas. Wir reden aber selbstverständlich auch über
Menschenrechte mit Peking. In kleinen Schritten lassen sich
Verbesserungen erzielen. So saß bei meinem zurückliegenden Besuch in
China der katholische Bischof von Tsingtao als einer meiner
Gesprächspartner erstmals mit dem Oberbürgermeister an einem Tisch.
Aber es geht auch um Respekt vor der 5000 Jahre alten chinesischen
Kultur. Wir können nicht versuchen, unser System China überzustülpen.
Die Minister, mit denen ich rede, repräsentieren 1,3 Milliarden
Menschen, ich dagegen acht Millionen Niedersachsen.

Bei der Haushaltsklausur Ende Juni droht wieder eine
Rotstiftorgie. Wären Sie lieber Ministerpräsident zu Zeiten gewesen
als Politiker noch Geld verteilen konnten?

Wulff: Auslandsreisen können einem auch zeigen, dass wir auf einem
hohen Niveau jammern. Unser Etatvolumen wächst, aber wir können nicht
vor jeden Posten ein Plus schreiben. Wir haben die jährliche
Neuverschuldung von 3,3 Milliarden auf 550 Millionen gesenkt, ohne
Krise kämen wir ohne neue Schulden aus. Es ist reizvoll, bei diesem
Umsteuern mitzuwirken.

Verhindert der Spaß am Umsteuern, dass sie wie Roland Koch dem
Reiz von mehr Freizeit, mehr Einkommen und weniger Anfeindungen
erliegen?

Wulff: Ich habe lange dafür gekämpft, Ministerpräsident zu werden.
Mir macht dieses Amt viel Freude. Ich kann sehr viel entscheiden,
kann vielen Menschen helfen und über die lange Strecke sehr viel
bewegen. Ich bin ohnehin eher Marathonläufer als Sprinter.

Die Wirtschaftskrise scheint die politischen Koordinaten nach
links verschoben zu haben. Sogar die Kanzlerin kann jetzt Banken
quasi-verstaatlichen. Ist kein Platz mehr für Marktliberale?

Wulff: In dieser Wirtschaftskrise musste von Autopilot auf
Handsteuerung umgeschaltet und mit Maßnahmen wie Rettungsschirmen,
Bürgschafts- und Konjunkturprogrammen gegengesteuert werden. Aber
niemand kann über eine längere Zeit schuldenfinanzierte
Krisenbekämpfung betreiben. Jetzt brauchen wir eine Exit-Strategie.
Sonst sind langfristig unsere Währung und die Zukunftsaussichten der
jungen Generation in Gefahr. Also müssen wir wieder auf Autopilot
umschalten -- und das ist die soziale Marktwirtschaft. Der Staat ist
nicht der bessere Unternehmer, er muss sich wieder zurückziehen.

Der Respekt der Wirtschaft wuchs, doch die Basis bröckelt. 5000
Mitglieder verlor die CDU in sechs Monaten. Was kann den Exodus
aufhalten?

Wulff: Es gibt heute mehr Menschen, die glauben, dass sie Politik
nicht brauchen. Die Wahlbeteiligung sinkt, ebenso die Zahl der
Parteimitglieder. Das ist für das System gefährlich. Wir werden uns
verstärkt überlegen müssen, wie man jungen Menschen auch über deren
Medien die Bedeutung von Parteien und Politik vermitteln kann.
Vielleicht gibt es auch eine ungute Tendenz in einzelnen Medien,
Aussagen zu verkürzen, zu personalisieren und zu skandalisieren,
anstatt zu vermitteln, dass Meinungsstreit für die Demokratie
eigentlich etwas Gutes ist.

Die Stammwähler verlieren für die Volksparteien an Bedeutung, weil
die Bindungskraft sowohl von Kirchen als auch Gewerkschaften
nachlässt. Drängeln sich die schrumpfenden Riesen bald in der Mitte
auf der Jagd nach Wechselwählern?

Wulff: Ich kümmere mich vor allem um die Stammwähler, weil sich
diese für mich an den Wahlstand stellen. Aber die Wechselwähler
entscheiden die Wahlen. Der Anteil derer, die sich zwischen
Donnerstag und dem Wahl-Sonntag entscheiden, ist auf 40 Prozent
gestiegen. Es ist zwar so, dass die Bindungswirkung, sich auf die
Dauer auf etwas einzulassen, nachgelassen hat, aber das Engagement,
sich für Einzelthemen einzusetzen, wächst.

Sie waren drauf und dran, den Beleg dafür zu liefern, dass die CDU
weltoffener und urbaner geworden sei. Sind sie sauer, dass Ihnen
parteininterne Kritik den Coup mit Frau Özkan verhagelt hat?

Wulff: Das Signal ist richtig und wichtig, obwohl Frau Özkan eine
Äußerung unterlaufen ist, die religiöse Gefühle verletzt hat, indem
sie gesagt hat, in staatliche Schulen gehören weder Kopftücher noch
Kreuze. Vor dem Hintergrund der Türkei, wo die Säkularisierung ein
großer Kampf war, oder Hamburg, wo Frau Özkan aufgewachsen ist -- und
es gar keine Kreuze in den Schulen gibt --, war die Äußerung zwar
verständlich. Doch hier in Niedersachsen bei dem freundschaftlichen
Miteinander von Staat und Kirche war sie kritikwürdig. Wir haben mit
der Ernennung der ersten Ministerin mit Migrationshintergrund sehr
viel Beachtung gefunden, aber auch festgestellt, dass wir noch viele
Vorbehalte überwinden müssen. Ich bin froh, Frau Özkan für dieses Amt
gewonnen zu haben, weil ich jetzt jedem kleinen türkischen Jungen
sagen kann: "Wenn du dich anstrengst, kannst du hier alles werden --
auch Minister." Das Argument: Ihr wollt uns doch gar nicht!, wird
dadurch abge"hakt.

Also werden Sie Ihrer Partei weiter den Spagat zwischen
Konservatismus und Modernität zumuten?

Wulff: Das ist für uns kein Spagat, weil Konservatismus die
modernste Lebensform ist. Alles, was sich bewährt hat, erhält man.
Das andere verändert man. Konservatismus bedeutet nicht, die Asche zu
bewahren, sondern die Flamme weiterzureichen.

Das Interview führte

Joachim Zießler

Mit freundlichen Grüßen

Dietlinde Terjung

Nachrichtenredaktion/Politik Telefon +49 (0)4131-740-283 Fax: +49
(0)4131-740-213 mailto: Dietlinde.Terjung@Landeszeitung.de
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Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
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Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
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