(Registrieren)

Landeszeitung Lüneburg: Dr. Markus Kaim, sicherheitspolitischer Experte, zum Luftangriff in Afghanistan: "Sauberer Krieg" ist nur eine Fiktion

Geschrieben am 18-09-2009

Lüneburg (ots) - Acht Jahre Einsatz haben die Lage in Afghanistan
nicht verbessert. Im Gegenteil: In den vergangenen fünf Wochen gab es
vier verheerende Anschläge von Taliban auf die ausländischen Soldaten
und afghanische Zivilisten. Bei der Präsidentschaftswahl kam es zu
massiven Wahlfälschungen. 30 zivile Opfer beim von der Bundeswehr
angeforderten Luftschlag in Kundus verstärken die Abzugsstimmung in
Deutschland. Experte Dr. Markus Kaim erwartet ein baldiges Abbröckeln
der ISAF-Mission.

Die ISAF-Luftschläge gegen die Tanklastzüge bei Kundus haben ein
Tabu geknackt. Wird der Afghanistan-Einsatz jetzt Wahlkampfthema?

Dr. Markus Kaim: Nicht wirklich. Und zwar deshalb nicht, weil der
Allparteienkonsens abzüglich der Linken zu Afghanistan hält. Bis zum
27. September wird das so bleiben. Wie es danach weitergeht, ist eine
ganz andere Frage. Ich kann mir vorstellen, dass die eigentlichen
politischen Folgewirkungen dieses Luftangriffes erst in der nächsten
Legislaturperiode sichtbar werden. Denn der neue Bundestag, der sich
Mitte Oktober konstituieren wird, muss sich unmittelbar mit der
Verlängerung und der Ausgestaltung des Afghanistan-Mandats der
Bundeswehr befassen. Dieses endet am 13. Dezember. Und da könnte ich
mir vorstellen, dass der eine oder andere Abgeordnete mit Blick auf
die Stimmung in den Wahlkreisen zunehmend skeptisch wird. Folglich
könnte der Druck wachsen, das Mandat mit einer Exit-Strategie zu
versehen, wie sie im jüngsten Papier von Außenminister Steinmeier
skizziert wird.

Wird die Marke, die die Wahlkämpfer gesetzt haben, 2013 sollen die
Voraussetzungen für einen Abzug geschaffen sein, dann noch eine Rolle
spielen?

Dr. Kaim: Wenn Politik immer so rational abliefe, wäre es
wunderbar: Man einigt sich auf ein Ziel und sobald es erreicht ist,
zieht man ab. Aber so läuft Politik nicht. Wir sehen in allen
Hauptstädten der westlichen Verbündeten eine große Unzufriedenheit
mit dem Einsatz, weil die Ergebnisse, auf die die NATO zielt, bisher
ausgeblieben sind, im Gegenteil sich die Sicherheitslage sogar
verschlechtert hat. Selbst in Paris, London und Washington, wo man
sich mit der Anwendung von militärischer Gewalt leichter als in
Berlin tut, ist die Geduld mit der Afghanistan-Mission langsam am
Ende. Gerade in den USA werden derzeit Gleichungen aufgemacht, die da
lauten: Wenn wir in Afghanistan nicht innerhalb eines Jahres
signifikante Verbesserungen sehen, werden wir den Einsatz beenden.
Das heißt allerdings nicht, dass der Westen Afghanistan völlig
vernachlässigen wird. Die Verbündeten sprechen über die
Zusammenarbeit bei der Ausbildung von Polizisten und Soldaten und
über die Unterstützung von gutem Regierungshandeln. Vielleicht
bleiben sogar US-Soldaten im Land - allerdings mit einem anderen
Mandat. Aber die ISAF-Mission der NATO wird sich vermutlich nicht mal
mehr bis 2013 halten.

Für die Regierung stand das Wort "Krieg" bisher auf dem Index.
Zeugt diese Vernebelungstaktik von mangelndem Respekt gegenüber dem
Souverän - dem Wähler?

Dr. Kaim: Ich kann die politischen und juristischen Gründe zwar
nachvollziehen, weshalb die Entscheider das Wort "Krieg" vermeiden.
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist es aber überhaupt keine Frage,
was die ISAF-Mission ist: Natürlich handelt es sich um Krieg. Um es
zu präzisieren: Was NATO und Bundeswehr in Afghanistan letztlich
machen, ist Aufstandsbekämpfung. Es geht darum, Sicherheit auf dem
Gebiet Afghanistans auch gegen Widerstand militärisch zu
gewährleisten. Das wird durch die Bekämpfung der Taliban und durch
die Ausbildung der afghanischen Armee und der Polizei gewährleistet,
damit in absehbarer Zeit diese die Aufgabe übernehmen können.

Aufstandsbekämpfung wurde aber selten als Begründung des Einsatzes
genannt, eher Brückenbau und Schutz für Frauen vor Islamisten. Ist
diese Unklarheit mitverantwortlich für die mehrheitliche Ablehnung
bei den Bundesbürgern?

Dr. Kaim: Zumindest haben die unterschiedlichen und wechselnden
Begründungen für ein weitverbreitetes Unwohlsein gesorgt. Noch immer
verweisen deutsche Politiker auf den 11. September als Begründung,
als ginge es vor allem um die deutsche Sicherheit, um
Terrorbekämpfung. Dann müsste die Bundeswehr allerdings ein anderes
Mandat haben. Etwa das für die "Operation Enduring Freedom", das
explizit die Terrorbekämpfung vorsah. Aber dieses Mandat ist 2008
bezüglich Afghanistan nicht verlängert worden. Es kann also ernsthaft
niemand mehr derartiges für die deutschen Truppen behaupten,
losgelöst von der Frage, ob sich überhaupt noch El Kaida in
Afghanistan befindet. Die andere Argumentationslinie bezieht sich auf
die humanitären Aktionen wie Brunnen bohren und Schulen bauen. Das
ist zwar löblich, hat aber nichts mit dem Mandat zu tun. Tatsächlich
sieht die Resolution 1386 des UN-Sicherheitsrates vor, dass ISAF
Sicherheit gewährleistet, damit andere - also zivile Helfer und
afghanische Organisationen - den Wiederaufbau leisten können. In der
operativen Wirklichkeit konfrontiert dieses Mandat die NATO-Truppen
in Afghanistan mit einem irregulären Krieg. Hier stehen sich keine
uniformierten Armeen gegenüber, bei denen sich Freund und Feind
leicht identifizieren lassen. Hier kämpfen Aufständische aus dem
Schutz der Zivilbevölkerung heraus. Bei der Aufstandsbekämpfung
werden also leider immer auch Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen
werden. Die häufig anzutreffende Fiktion eines "sauberen Krieges"
lässt sich nicht aufrechterhalten.

Die Alliierten brauchten keine sechs Jahre, um Hitler-Deutschland
und Japan niederzuringen. Warum gibt es nach acht Jahren immer noch
keine Sicherheit am Hindukusch?

Dr. Kaim: Der Hauptfehler war, dass zu Beginn der Mission viele,
nicht nur Deutschland, den Einsatz unterschätzt haben. Viel zu spät
wurden die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt - sowohl die
militärischen als auch die zivilen. Die Bundesregierung entsandte
zunächst 1200 Soldaten, das waren viel zu wenig. Jetzt sind bis zu
4500 Soldaten vor Ort. Der Kundus-Vorfall zeigte wieder: Wären mehr
Bodentruppen vor Ort, die imstande wären, die Taliban nicht nur für
eine befristete Zeit zu vertreiben, sondern die Regionen auf Dauer zu
sichern, wäre die Sicherheitslage besser. Weil wir diese Lage aber
nicht haben, muss man öfter zu Luftschlägen greifen als angemessen
ist.

Gefährdet ein baldiger Abzug des Westens das Erreichte?

Dr. Kaim: Das ist schwer zu beurteilen. Sicher ist aber, dass die
Taliban nach einem Abzug der westlichen Truppen erstarken werden. Es
wäre denkbar, dass das Land zumindest zweigeteilt wird in ein
Taliban-Afghanistan und ein Karsai-Afghanistan mit einer steigenden
Bürgerkriegsgefahr. Außerdem würde das Land wohl erneut zum Spielball
der Nachbarn Iran, Pakistan, Indien und der zentralasiatischen
Republiken. Offen bleibt, ob das Land erneut Rückzugsraum für El
Kaida wird. Dennoch wird der Abzug der ISAF wahrscheinlich innerhalb
der nächsten Legislaturperiode kommen.

Sind die Ziele der Allianz vermessen?

Dr. Kaim: Jetzt nicht mehr. Mittlerweile herrscht Realismus vor.
Doch für eine lange Zeit waren die Ziele unrealistisch. Die
Implantierung einer Demokratie westlicher Prägung, die Zerschlagung
der Drogen-Ökonomie und ähnliches war in den kurzen Zeiträumen zu
ambitioniert.

Am Hindukusch zerbrach einst das Selbstbewusstsein der Roten
Armee. Zerbricht dort auch der Zusammenhalt der NATO?

Dr. Kaim: Das glaube ich nicht. Sieht die Zukunft aber so aus, wie
ich es eben skizziert habe, wird das Bündnis in Zukunft
zurückhaltender sein, bevor sie derartige Missionen übernimmt. Und
das ist das Problematische angesichts vieler Krisenherde auf der
Welt. Künftig könnte die NATO wegen der Afghanistan-Erfahrung sogar
vor einem Einsatz zur Verhinderung eines Genozids zurückschrecken,
obwohl sich die Wertegemeinschaft sonst schnell darüber einig wäre.

Das niederländische und das kanadische Parlament haben Abzugspläne
verabschiedet. Vorbilder für den Bundestag?

Dr. Kaim: In der Sache müssen sie das nicht sein. Aber diese
Entscheidungen zeigen zumindest, dass Staaten in einer nüchternen,
offenen Debatte über derartige Probleme entscheiden können. Diese
beide Staaten sind für die NATO besonders interessant, weil ihr Abzug
2010 bzw. 2011 eine militärische und politische Dynamik in Gang
setzen wird. Deren Kontingente sind beim umkämpften Kandahar im Süden
im Einsatz. Wer wird sie ersetzen? Und wie will die Bundesregierung
im kommenden Jahr - wenn die Niederländer abziehen - der
Öffentlichkeit erklären, warum sie ihre Truppen vor Ort belässt? Es
besteht die Gefahr, dass der erste Abzug die gesamte ISAF-Mission
aushöhlt, weil keine Regierung die letzte sein will.

Hat Kundus die deutsche Illusion endgültig zerstört, es gäbe einen
sauberen Krieg ohne zivile Opfer?

Dr. Kaim: Er hat zumindest das Hauptproblem für die deutsche
Öffentlichkeit auf die Spitze getrieben. Es hat sich in den
vergangenen Jahren gezeigt, dass die deutsche Gesellschaft eher
akzeptiert, dass deutsche Soldaten im Einsatz sterben als dass
deutsche Soldaten im Einsatz Zivilisten töten. Die bei Kundus
getöteten 30 Zivilisten unterstreichen, dass ein asymmetrischer Krieg
nicht "sauber" sein kann.

War diese Ernüchterung nötig, um zu einer verantwortungsvollen
Neudefinition deutscher Sicherheitspolitik zu kommen?

Dr. Kaim: So weit würde ich nicht gehen, aber sie ist notwendig,
um einen unverstellten Blick auf die Afghanistan-Mission zu erhalten.
Die Politik neigt manchmal dazu, die Dramatik des Einsatzes zu
verschleiern. Häufig klingen entsprechende Äußerungen harmlos und
konstruktiv. So ist Krieg aber nicht. Wer also für einen Verbleib der
Bundeswehr am Hindukusch plädiert, muss ehrlicherweise einräumen,
dass es zu solchen Vorfällen wie bei Kundus kommen kann.

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

225857

weitere Artikel:
  • Bärbel Bohley im stern-Extra: DDR-Oppositionelle haben zu früh aufgegeben Hamburg (ots) - Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley ist davon überzeugt, dass die Oppositionsbewegung nach dem Fall der Mauer ihre führende Rolle in der friedlichen Revolution hätte behalten können. "Wenn wir nach Bonn gefahren wären und gesagt hätten: ,Es wird mit uns verhandelt', dann hätte Kohl gesagt: ,Bitte'". Die Bürgerrechtler seien schließlich in der Position gewesen, "dass wir die Schritte bestimmen konnten", sagte Bohley in einem Gespräch im neuen, am heutigen Freitag erscheinenden Extra-Heft des Hamburger Magazins mehr...

  • Sevim Dagdelen: Bei der Bundestagswahl dürfen viele Migranten nicht "mitmischen" Berlin (ots) - "Für jene Migrantinnen und Migranten, denen die große Koalition ebenso wie alle bisherigen Bundesregierungen das Wahlrecht vorenthält, dürfte das Motto der diesjährigen Interkulturellen Woche einen faden Beigeschmack haben. Sie können am 27. September nicht 'mitmischen', auch wenn sie schon Jahre oder Jahrzehnte in Deutschland leben", kritisiert Sevim Dagdelen. Die migrationspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE tritt für die volle rechtliche Gleichstellung von Migrantinnen und Migranten ein und fordert unter anderem mehr...

  • Live-Video-Chat mit Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) auf MyVideo.de Berlin (ots) - - Bereits mehr als eine halbe Million Videoabrufe der vorherigen Live-Chats bestätigen hohes politisches Interesse der MyVideo.de-User - Letzter Live-Video-Chat vor der Bundestagswahl: Christian Wulff stellt sich den Fragen der MyVideo.de- und N24.de-Nutzer Seit nunmehr sechs Wochen präsentiert MyVideo.de ( www.myvideo.de ) anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahlen seine Wahlkampfarena ( http://www.myvideo.de/wahlkampfarena ). In Kooperation mit N24 und Facebook Connect konnte die größte Video-Community aus Deutschland mehr...

  • Herbert Schui: Merkel betreibt bei G20 nur Symbolpolitik Berlin (ots) - "Das Kernproblem auf den Finanzmärkten sind nicht überzogene Manager-Boni, es ist die fehlende Regulierung der Märkte insgesamt", kommentiert Herbert Schui die Vorbereitungen zum G20-Gipfel in Pittsburgh. Der wirtschaftspolitische Sprecher der Fraktion DIE LINKE weiter: "Die Geschäftsmodelle der Finanzinstitute müssen wieder auf ihre gesellschaftliche Funktion zurückgestutzt werden. Die besteht darin, das produzierende Gewerbe mit Kredit zu versorgen. Dafür muss das Investmentbanking durch wirksame Regulierung zurückgedrängt mehr...

  • "Weil wir es wert sind" - 50 Meter für die Zukunft guter Pflege (mit Bild) / Diakonie übergibt tausende Unterschriften und fordert Politik zum Handeln auf Berlin (ots) - - Querverweis: Bildmaterial wird über obs versandt und ist abrufbar unter http://www.presseportal.de/galerie.htx?type=obs - Mit einer außergewöhnlichen Aktion machten sich heute Vormittag Pflegekräfte diakonischer Einrichtungen vor dem Reichstag für die Zukunft der Pflege stark: "Weil wir es wert sind" - so stand es in einem übergroßen, 50 Meter langen Schriftzug, zusammengesetzt aus Fotos tausender Pflegekräfte, zu lesen. Mit der gleichnamigen Kampagne setzen sich das Diakonische Werk der EKD und der Deutsche mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht