(Registrieren)

Der Stadt ihr Bestes suchen / Eine Replik zur Integrationsstudie des Berlin-Instituts und zur Weiterentwicklung sozialer Stadt in Deutschland - die Perspektive des vhw

Geschrieben am 09-02-2009

Berlin (ots) - Bei der jüngsten Debatte zum Integrationsstand "der
Türken" wurden wieder sozialwissenschaftliche Methoden eingesetzt,
die der Lebenswelt und Sicht der Betroffenen wenig Platz einräumen,
die wieder Ethnie und individuelle, messbare Schulleistung in einen
direkten kausalen Zusammenhang stellt. Wir meinen, dass gerade für
Migranten das Zusammenspiel zwischen Potenzialen und Problemen in der
Stadtgesellschaft sowie die Zugehörigkeit zu Milieugruppen
unverzichtbare Grundlagen sind, um Perspektiven in die Debatte
brennender politischer Probleme zu bringen, um der Stadt ihr Bestes
zu suchen und nicht Vorurteile zu bedienen. Das gilt im Prinzip
sowohl für demografische, ökonomische und ökologische
Herausforderungen als auch für die entsprechende Forschung.

Vom Krisenszenario deutscher Stadtgesellschaften zu einer
angemessenen Theorie urbaner Vielfalt

Migrantengruppen sind nicht das Problem an sich, sondern Teile
unserer Gesellschaft, die in ihrer Breite Gewinner und Verlierer der
Modernisierung kennt. Die größeren Städte in Deutschland bilden eine
Gesellschaft in Vielfalt ab. Die Menschen sind in ihren sozialen,
Generationen- und Kulturunterschieden mehr oder minder zwingend
aufeinander angewiesen. Weder Stadtverwaltung, noch Wirtschaft oder
eine vereins- und verbändegestützte Zivilgesellschaft können die in
dieser Vielfalt nicht offen liegenden Potenziale im Alleingang
erschließen.

Für aufgeklärte Städte stellen sich diese Alltagsstrukturen der
Zuwanderung, Altersentwicklung und sozialer Unterschiede und
Lebensweisen nicht als nationalstaatliches Krisenszenario dar,
sondern als Handlungsfelder miteinander verknüpfter Akteure. Soziale
Stadt heißt unter diesem Vorzeichen nicht die Sorge um Minderheiten,
Randlagen und Problemquartiere sondern um die Prozesse und Verfahren
("governance"), die den Zusammenhalt ("cohesion") und das Gemeinwohl
("public value") der gesamten Stadt sichern.

Die Hälfte der nachwachsenden Schulkinder in Städten haben
Migrantenhintergrund, die Hälfte der Bevölkerung lebt jenseits vom
Erwerbsleben und sie leben allein, und nur noch knapp die Hälfte
bildet die Einkommensmitte der Stadtgesellschaft. Für die
nationalstaatliche Sichtweise sind es andere "Fakten": ein Drittel
Migranten, ein Viertel Ältere usw. Rund um die Studie werden deshalb
auch Klischees wiederholt: Berlin, Bremen etc. als
Zuwanderungsbrennpunkte, während die realen Migrationszentren
München, Stuttgart etc. sind. Die europäischen Stadtgesellschaften
ähneln sich, die Menschen in ihren Städten "müssen ihr Leben führen
und verstehen im Austausch und nicht länger in der Begegnung mit
ihresgleichen" (Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit,
2008, S.40) oder sie werden scheitern.

Von der individuellen Leistungsmessung zum Wirkungszusammenhang
von Individuen, Milieus, Gemeinschaften und staatlicher
Daseinsvorsorge

Deutschland diskutiert, weil eine Studie sagt: "Die Türken
verweigern sich der Integration". (WELT 1.2.09) Das Berlin-Institut
lehnt sich an die spektakulären PISA-Studien an, errechnet
Leistungsfaktoren wie Bildung, Assimilation, Erwerbsleben, Dynamik
und Absicherung und kommt zu dem Schluss ("Endbewertung" heißt es
dort), dass die Türken "halb so gut sind" wie Aussiedler und
EU-Zugewanderte. Die Presse hat die Botschaft wohl verstanden. Dort
wurde getitelt "Bundesweite Studie ist alarmierend". Der Spiegel
titelt "Für immer fremd".

Kommunale und nationale Politik wird zur messbaren Dienstleistung
im nationalstaatlichen Handlungsrahmen. Die Berlin-Studie zu den
Migranten geht diesen Weg - konsequent und unhistorisch. Alle
Migranten werden verglichen bei höchst verschiedenen Startchancen.
Beispielsweise hat die dritte Generation einer Zuwanderungsgruppe
andere Bedingungen in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit als eine
erste "Türkengeneration" bei Daimler-Benz, die zwar schlecht deutsch
sprach aber sowohl das Streikrecht wie die Kehrwoche neben einem
Zehnstundentag perfekt beherrschten. Das hat alles mehr mit dem
"deutschen" Arbeitsmarkt zu tun als mit der "anatolischen Herkunft".

Es schleicht sich der Eindruck ein, dass in der Studie Ursachen
und Wirkungen verwechselt werden. Weil die nationale Politik nicht
früher reagiert hat sowie konsequent und differenziert nach
ethnischen Gruppen arbeitet und nicht mit den Städten kooperiert hat,
werden jetzt die Folgen festgestellt und den Betroffenen in die
Schuhe geschoben.

Von der Spaltung zur Wertschätzung und Anerkennung

Es gibt "die Türken" nicht. Der Ansatz der vhw-Milieustudien
zeigt, dass die Migranten sich ähnlich der deutschen Gesellschaft
quer zu den Ethnien sammeln. Die Unterscheidung nach Herkunftsländern
bzw. -kulturen ist nicht geeignet, der vielfältigen
Lebenswirklichkeit und damit auch der Integrationsbereitschaft von
Migranten gerecht zu werden. Die aktuelle Studie Migranten-Milieus
verdeutlicht: Vielmehr entscheidet die Zugehörigkeit zu einer
Lebenswelt, einem "Migranten-Milieu" über Stand und Bereitschaft zur
Integration bei Migranten. Link zur Pressemitteilung mit Grafik:
http://www.vhw-online.de/aktuell/content/343.pdf

Um in diesem Zusammenhang auf die Türken zurückzukommen: Sie sind
hier sehr breit in allen Gruppen vertreten. Weniger als ein Fünftel
von Ihnen zählt zum integrationsfernen religiös-verwurzelten Milieu
und eine relative Mehrheit von 40% ist bürgerlichen und
aufstiegsorientierten Milieus mit hoher Integrationsneigung
zuzuordnen. Link zur Pressemitteilung mit Grafik:
http://www.vhw-online.de/aktuell/content/343.pdf

Entsprechend solcher Linien verläuft die Integrations- und
Bildungserfolgsdebatte. Ein Teil der Deutsch-Türken "hängt" in
unteren Milieus fest: aber aus arbeitsmarktbedingten, ökonomischen
oder religiös verankerten Gründen - nicht wegen ihrer "Nation". Sie
kommen gerade zu 4% (im Migrantendurchschnitt 14%) mit
Hochschulabschlüssen im Alltag an und können ihren Kindern
entsprechend schwerer Qualifikationen vermitteln. Die Deutsch-Türken
als Ganze stimmen allerdings gleichzeitig in hohem Maße individuellen
Leistungs- und Erfolgswerten zu - und hier unterscheiden sie sich
auch nicht im Vergleich zu anderen Migrantengruppen. Tatsächlich ist
das Element der Leistungsorientierung bei Migranten sogar stärker
ausgeprägt als bei Deutschen. Bei der Identifikation mit Deutschland
stehen sie als Ethnie anderen Migrantengruppen zwar leicht nach (75%
zu 83%): Tatsächlich differenziert hier aber das Gegenüber von
traditionellen und modernen Milieus stärker als die Zugehörigkeit zur
Gruppe der Deutsch-Türken. Das Wertemuster der Deutsch-Türken ist
sogar breiter als die Berlin-Institut-Studie erlaubt zu denken
(Teilhabe wünschen sich etwa Türken wie andere Migrantengruppen auch
über alle Milieus hinweg zu über 40%). Die Politik muss das für eine
soziale Stadt nicht unwichtige Wertespektrum anerkennen und dieses
hohe Potenzial der modernisierungsbereiten Deutsch-Türken stärken,
statt sie in "einen nationalen Topf" zu werfen. Und: sie muss
Antworten finden, warum der Teilhabewunsch hierzulande nur zur Hälfte
realisiert werden kann (20% Status Quo zu über 40% Potenzial).

Zugänge der Milieuforschung treffen die Wirklichkeit deutlicher.
Noch einmal zum Widerspruch der Forschungsansätze. Der
Berlin-Institut-Ansatz interessiert sich nur für das individuelle
Ergebnis. Der stadtgesellschaftliche Milieuansatz fragt nach den
Zusammenhängen, um zu besseren individuellen Ergebnissen zu kommen.
Gerade am Beispiel der Deutsch-Türken gilt: Sie akzeptieren fast
alle diese deutsche Gesellschaft mit ihren Leistungsansprüchen, aber
es gelingt einigen Gruppen von ihnen und(!) den deutschen
Institutionen nicht, ihren Kindern den weiterführenden
Schulerfolgsanschluss zu ermöglichen.

Von der staatsorientierten Ausländerdebatte zu einem neuen
Gesellschaftsverständnis

In isolierten Ressortforschungen lassen sich die Phänomene
wunderbar eingrenzen - in der Wirklichkeit nicht. Mithin werden
solche "Berlin-Studien" nicht das Integrations- und Bildungsniveau
"der Türken" verbessern sondern eher eine "Absetzbewegung" der
Leistungsmilieus im deutschen und türkischen Bereich fördern.
Türkische Privatschulen sind angesagt. Umzüge deutsch-türkischer
Bürger aus den Schulsprengeln, um dem eigenen Kind eine Zukunft zu
geben. Die Kommunen werden ihre Aufgaben der Daseinsvorsorge und der
Demokratiegestaltung nicht leisten können, wenn eine Gesellschaft -
erst unsichtbar, dann auch sichtbar - zerfällt. Und die Kommunen
müssen dort Antworten finden, wo Segregation sichtbar geworden ist.
Es fehlt an Studien, die uns helfen zu verstehen, wie aus sichtbaren
Initiativen, z.B. deutsch-türkischer Stadtteilmütter, ein Mehrwert
für alle generiert werden kann. Wer gibt dem Gemeinwohl im
Gemeinwesen eine Zukunft?

Von populistischen Forschungen an den Angsträndern unserer
Stadtgesellschaften zur Neuvermessung der Sozialen Stadt

Interdependenz und Teilhabe machen die Stadtgesellschaften aus.
Ein Entrinnen daraus gibt es nur um den Preis der Ausgrenzung,
Spaltung oder Abwanderung. Der nationale Politik-, Forschungs- und
Mediendiskurs verläuft entlang der individuellen Erfolgs- und
Leistungskriterien und ignoriert die Wirkfaktoren, Abhängigkeiten,
Zusammenhänge und letztlich auch Chancen für gemeinschaftsorientierte
Lösungen.

Der vhw greift diese Entwicklung in Fortbildung und
Grundlagenforschung auf und setzt sich für eine zeitgemäße
Unterstützung der Bürgergesellschaft ein. Die vornehmste Aufgabe
zukunftsorientierter Gesellschaftspolitik ist es, den oft
unsichtbaren, virtuellen, aber höchst wirksamen Gleichgewichtspunkten
solcher Stadtgesellschaften die gebotene Aufmerksamkeit zu schenken.

Es wird ein neues Bemühen der nationalstaatlichen Politik geben
müssen, solches Vorgehen nicht zu behindern und intelligente Wege zu
finden, durch eine ressortübergreifende Politik den Zusammenhalt von
Gesellschaft in der Ausgewogenheit individuellen Förderns und
Forderns bei gleichzeitiger Stärkung der Infrastruktur und
demokratischen Teilhabe der Bürgerschaft zu fördern.

Mehr zu der vhw-Migrantenstudie Wie Migranten wohnen wollen unter:
http://www.vhw-online.de/forum/index.php

Einzelne Downloads zu: Lebenswelten der Migranten:
http://www.vhw-online.de/forum/content/200806_1172.pdf

Wohnsituation und Wohnwünsche der Migranten:
http://www.vhw-online.de/forum/content/200806_1173.pdf

Migranten-Milieus und lokales Engagement:
http://www.vhw-online.de/forum/content/200806_1174.pdf

Originaltext: vhw Bundesverband für Wohneigentum und Stadtentwicklung e.V.
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/68451
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_68451.rss2

Pressekontakt:
Kontakt und Information über:
Ruby Nähring
Referentin Öffentlichkeitsarbeit
vhw - Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V.
Bundesgeschäftsstelle
Ernst-Reuter-Haus Straße des 17. Juni 114
10623 Berlin
Tel.: +49 30 39 04 73-67
Fax: +49 30 39 04 73-19
rnaehring@vhw.de
www.vhw.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

185352

weitere Artikel:
  • WAZ: Stein nimmt Merkel wegen Papst-Kritik in Schutz Essen (ots) - Der frühere israelische Botschafter in Berlin, Schimon Stein, hat das Vorgehen von Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber dem Vatikan verteidigt. "Als erfahrene Politikerin muss die Bundeskanzlerin gewusst haben, dass ihre Stellungnahme potenzielle Wähler verärgern wird, dennoch hat sie sich zu diesem Schritt entschlossen", schreibt Stein in einem Gastbeitrag für die in Essen erscheinende Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ, Dienstagausgabe). "In diesem Sinne hat sie enorm zur Glaubwürdigkeit der politischen Kultur beigetragen." mehr...

  • Der Tagesspiegel: Glos-Rücktritt löst Grundsatzdebatte in Union über Wirtschaftskompetenz aus / Laurenz Meyer: Von einer klaren Linie wird Beteiligung der Union an nächster Regierung abhängen Berlin (ots) - Berlin - In der Union hat der Wechsel an der Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums eine Debatte über den eigenen Kurs ausgelöst. Der wirtschaftspolitische Sprecher der Union, Laurenz Meyer (CDU), forderte seine Partei auf, bis zur Bundestagswahl eine "klare Linie in der Wirtschaftspolitik" zu formulieren. "Eindeutiger Schwerpunkt für die nächste Legislaturperiode" müsse dabei "mehr Netto" für Arbeitnehmer sein, sagte Meyer dem Tagesspiegel (Dienstagsausgabe). Der Wirtschaftspolitiker warnte CDU und CSU: "Davon, ob uns mehr...

  • Singhammer: Gesetzliche Änderung absolut notwendig Berlin (ots) - Anlässlich der öffentlichen Informationsveranstaltung zur Gesetzesinitiative "Spätabtreibung" erklärt der frauenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johannes Singhammer MdB: Die Anhörung der Experten zum Thema "Spätabtreibung" hat ergeben, dass eine gesetzliche Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes zur Verbesserung der Situation bei Spätabtreibungen dringend erforderlich ist. Lediglich untergesetzliche Regelungen sind nicht ausreichend. Schwerpunkt der Anhörung war die gesetzliche Formulierung mehr...

  • Weser-Kurier: Zum Thema "Patientenverfügung" und zum aktuellen politischen Streit um Sterbehilfe in Italien meldet der in Bremen erscheinende Weser-Kurier: Bremen (ots) - Eine schnelle gesetzliche Klarstellung für Patientenverfügungen hat Jerzy Montag, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, gefordert. "Der Bundestag ist in der Pflicht, endlich seine Arbeit zu machen", sagte Montag in einem Interview mit dem Bremer "Weser-Kurier" (Dienstag-Ausgabe). Die große Mehrheit der Gesellschaft fordere dies. Montag mahnte angesichts des politischen Streits um die bereits eingeleitete Sterbehilfe für eine seit 17 Jahren im Wachkoma liegende Italienerin, zwar habe der Staat die Pflicht, mehr...

  • Günther Beckstein (CSU) am Dienstag zu Gast bei "Links-Rechts" / N24-Talk am 10. Februar 2009, um 23:30 Uhr Berlin (ots) - Am Dienstag, den 10.02.09, um 23:30 Uhr ist der ehemalige Ministerpräsident von Bayern, Günther Beckstein, zu Gast bei "Links-Rechts". Die N24-Moderatoren Hajo Schumacher und Hans- Hermann Tiedje diskutieren mit ihm über innere Sicherheit, Konjunkturprogramme und die jüngsten Personalwechsel in der CSU. "Links-Rechts", der N24-Talk mit Hans-Hermann Tiedje und Hajo Schumacher, immer dienstags, um 23:30 Uhr, auf N24 Die komplette Sendung im Internet auf N24.de: http://www.N24.de/links-rechts Originaltext: mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht