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Landeszeitung Lüneburg: ,,Russland braucht den Westen" -- Interview mit dem Hamburger Völkerrechtler Prof. Otto Luchterhandt

Geschrieben am 11-09-2008

Lüneburg (ots) - Georgiens abtrünnige Provinz Südossetin drängt
ins russische Reich, Moskau auf eine Allianz der erdölfördernden
Länder, der Kommandeur der russischen Strategischen Raketen erwägt,
die Standorte des US-Raketenschutzschilds in Polen und Tschechien ins
Visier zu nehmen: Nach dem Fünf-Tage-Krieg im Kaukasus prägt
Kalte-Kriegs-Rhetorik die Ost-West-Beziehungen. Der Hamburger
Völkerrechtler Prof. Otto Luchterhandt analysiert Ziele und Zustand
des Riesenreichs im Osten.

Partner oder Rivale, Demokratie oder Autokratie -- wohin steuert
Russland?
Prof. Otto Luchterhandt: Eine -- wie immer im Falle Russlands --
schwer zu beantwortende Frage. Allerdings steuert Russland einen
stabilen Kurs, nicht zuletzt garantiert durch die personelle
Kontinuität an der Spitze. Putin hat 2007 im Duma- und 2008 im
Präsidentschaftswahlkampf die Perspektive "Russland 2020" als seinen
"Plan" ausgegeben. Im Kreml denkt man trotz der schlechten
Erfahrungen mit der Planwirtschaft weiter in Kategorien der
Politplanung. Demnach geht Putin davon aus, dass er bis 2020 -- auf
welchem Posten auch immer -- die Geschicke des Staates lenken wird.
Seine Ziele sind Effizienzsteigerung im Innern und die Mehrung der
Macht nach außen.

Kann Russland seine Rolle als Ressourcen-Supermacht ummünzen in
eine Renaissance als politische Großmacht?
Prof. Luchterhandt: Eindeutig ja. Und dies war von Anfang an ein Ziel
Putins. Russlands Elite misst sich weiter zum einen an der
Weltmachtrolle der Sowjetunion und zum anderen an den USA als der
antagonistischen Weltmacht. Die Sowjetunion gründete ihren Status als
Weltmacht auf den Sitz im Weltsicherheitsrat, das Militär, vor allem
die Atommacht, und auf die Faustpfänder, die man als Siegermacht des
Zweiten Weltkriegs erlangt hatte. Zwar hat Russland sein Glacis in
Europa und Mittelasien verloren, doch dafür kann es jetzt bei
mittelfristig stabil hohen Preisen seine Verfügungsgewalt über
weltweit die größten Rohstoffressourcen ausspielen. Darauf gestützt
kann man heute auf energie-, wirtschafts- und finanzpolitischer Ebene
Weltmachtpolitik betreiben, ohne die militärische Karte spielen zu
müssen.

Sieht Russland sich noch als Teil des europäischen Hauses?
Prof. Luchterhandt: Jein. Institutionell wurde Russland zwar mit dem
Beitritt zum Europarat 1996 und der Ratifizierung der Europäischen
Menschenrechtskonvention 1998 ein Teil des europäischen Hauses. Zudem
ist es über die OSZE und das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen
mit der EU verbunden. Dennoch machen Moskaus Weltmachtambitionen
Russland auch zum Rivalen Europas. In der Georgienkrise zeigte sich
deutlich: Russland hat eigene Vorstellungen von seiner Rolle in der
Welt. Moskau würde sich nicht mit einer Etage im europäischen Haus
zufriedengeben, ist deshalb nicht integrierbar. Gorbatschows
Formulierung war aber schon damals nicht so zu verstehen, dass die
Sowjetunion sich unter Abgabe souveräner Rechte in Europa einfügen
wollte. Vielmehr ging es ihm darum, Anschluss zu bekommen an die
europäischen Werte und darum, Russland im Geiste dieser Werte
umzubauen.

Mit seinem Vorstoß in Georgien befremdete Russland die
Shanghai-Gruppe, eine Art asiatische Anti-NATO. Isoliert sich
Russland bewusst?
Prof. Luchterhandt: Nein. Die Tendenz zur Entfremdung von den
Mitgliedern der Shanghai-Gruppe -- und hier ist vor allem China zu
nennen -- ist die Konsequenz aus einer Lage, die der Kreml als
Zwangslage empfand. Der Angriffsbefehl des georgischen Präsidenten
Saakaschwili hat Moskau in Zugzwang gebracht. Russland war -- und das
ließ sich sogar im Mienenspiel Putins ablesen -- mit der Entwicklung
nicht zufrieden. Der Kreml musste zwischen zwei Übeln wählen:
Einerseits der Entfremdung nicht nur von China, sondern auch von
Serbien, das sich wegen des sezessionistischen Kosovo durch Russlands
Anerkennung Abchaziens und Süd-Ossetiens düpiert fühlt. Anderseits
der Einengung seiner Bewegungsfreiheit im Südkaukasus.
Kann Russland den militärischen Erfolg politisch absichern und seine
Interessensphäre auf dem Kaukasus behaupten? Prof. Luchterhandt: Das
kann man im Moment nicht sicher beantworten. Tiflis zwang Moskau, von
seiner Linie abzuweichen -- nämlich die Grenzen an seiner Südseite
nicht zu verschieben. Jetzt kommt der Kreml nicht mehr umhin,
Südossetien in die Russländische Föderation aufzunehmen. Die Grenzen
Abchasiens und Südossetiens zu Georgien sind zementiert, auch wenn
man dazu andere Stimmen aus Europa hört. Die Erwartung Saakaschwilis,
der Westen würde ihm bei der Rückgewinnung beider Gebiete helfen,
zeugt von Realitätsverlust. Russland bezahlt den Gebietszugewinn aber
mit Ansehensverlust in Armenien und Aserbaidschan.

Eine Welle des Hurrapatriotismus hat Russland erfasst. Hätten sich
Medwedew und Putin Konzessionen überhaupt leisten können?
Prof. Luchterhandt: Solange Saakaschwili in Tiflis regiert, muss das
eindeutig mit Nein beantwortet werden. Der georgische Präsident ist
hochtalentiert, gebildet, welterfahren -- zugleich aber aufbrausend,
beratungsresistent und hochgradig von sich selbst überzeugt. Er
glaubte, mit Russland auf Augenhöhe zu sein. Ein nicht
nachvollziehbarer Realitätsverlust, gerade in einem Land, das schon
mehrfach die harte Hand Moskaus in Russlands "Hinterhof" erleiden
musste. Es bleibt ein Rest Unverständlichkeit, wie es zu diesem
Angriffsbefehl kommen konnte.

Der Kreml betrachtet Georgien und die Ukraine als rote Linie, die
der Westen nicht übertreten darf. Was, wenn Sewastopol ein NATO-Hafen
werden soll?
Prof. Luchterhandt: Das wäre für Russland ein Albtraum. Sewastopol
ist einer der besten Häfen der Schwarzmeerküste. Ein Naturhafen, der
wegen seiner unterseeischen Kasematten fantastisch für U-Boote
geeignet ist. Es ist eine schmerzliche Perspektive für Russlands
Strategen, Sewastopol im Jahre 2017 -- nach Ablauf des 20-jährigen
Pachtvertrags -- verlassen zu müssen. Russland wird alles tun, um
dies und die drohende Stationierung von NATO-Schiffen auf der Krim zu
verhindern. Russlands harte Haltung gegenüber Georgien gründet vor
allem auf Saakaschwilis zielstrebige Anstrengungen, sein Land in die
NATO zu führen. Würde Kiew einen ähnlichen Kurs steuern, wäre Moskaus
Reaktion eher noch entschlossener.

Das Duumvirat setzt im Inneren auf persönliche und wirtschaftliche
Freiheit -- politische Freiheit wird ausgeblendet. Kann dies im 21.
Jahrhundert gelingen?
Prof. Luchterhandt: An dieser wichtigen Frage scheiden sich die
Geister. Ein russischer Kollege skizzierte jüngst in einem Vortrag
Medwedew als einen Präsidenten, der die Demokratie und den
Rechtsstaat in Russland fördern wolle, dies aber vorläufig noch nicht
so laut sage. Für die fernere Zukunft, für die Nach-Putin-Ära kann
man diese Hoffnung hegen. In der gegenwärtigen Konstellation, so
lange Putin faktisch die Politik lenkt, halte ich dies für
ausgeschlossen.

Der Kreml kritisierte zuletzt die fehlende Handschrift der Duma im
Gesetzgebungsprozess. Steht das Parlament vor einer Entmachtung oder
vor einer Aufwertung?
Prof. Luchterhandt: Die Duma hat unter dem Ministerpräsidenten und
Chef der Kreml-Partei Putin ebensowenig Gestaltungsspielraum wie
unter dem Präsidenten Putin. Sie ist nicht mehr als sein Instrument.
Durch ein Amtsenthebungsverfahren der Duma könnte Putin Medwedew
entmachten, falls dieser einen eigenen Kurs versuchen sollte. Aber
das wird nicht passieren. Medwedew ist eine Kreatur Putins, die
dieser hervorragende Menschenkenner nicht zufällig ausgewählt hat.
Derzeit beackert Medwedew vor allem Politikfelder, die traditionell
Aufgaben des Ministerpräsidenten wären: Stärkung der Justiz und
Bekämpfung der Korruption im Staatsapparat. Dies macht er im
Einverständnis mit der Duma. Alle anderen Fragen der Machtverteilung
im System Putin, in dem Medwedew nur eine Komponente ist, liegen
außerhalb des Zugriffs der Duma. So hat Putin etwa die Kontrolle über
die bewaffneten Ressorts de facto behalten.

Muss sich der Westen angesichts der Stabilität des Systems Putin
von der Vorstellung verabschieden, Wandel durch Annäherung erreichen
zu können?
Prof. Luchterhandt: Man könnte auf starke Worte wie strategische
Partnerschaft oder Modernisierungspartnerschaft eher verzichten. Die
Russlandpolitik Deutschlands und Europas muss aus zwei Komponenten
bestehen: Zunächst müssen wir mit Russland im Gespräch bleiben. Eine
Eiszeit können wir uns schon wegen der Abhängigkeit vom russischen
Gas nicht leisten. Zudem gibt es viel mehr gemeinsame Interessen, als
im Pulverdampf der diplomatischen Gefechte um den Georgien-Konflikt
erkennbar sind: Etwa der Ausbau der Infrastruktur Russlands, dazu
gehört das Rechtswesen ebenso wie Verkehr, Wirtschaft und Verwaltung.
Russland ist ein rückständiges Land. Sein Nachholbedarf auf fast
allen Gebieten ist immens. Hier besteht eine wechselseitige
Abhängigkeit. Die zweite Komponente ist die Notwendigkeit, Russland
klar zu machen, wenn es gemeinsame Werte verletzt -- die etwa der
Europarat symbolisiert. Russland wurde während des ersten
Tschetschenienkrieges aufgenommen, im Grunde unter Bruch der
Aufnahmebedingungen. Dieser Vertrauensvorschuss ist aber auch mal
aufgebraucht, zumal der Europarat auf Dauer nicht mit zweierlei
Standards messen und Russland nachsichtiger behandeln kann als etwa
Armenien oder Aserbaidschan. Allerdings nimmt Moskau Mahnungen des
Westens kaum noch ernst, weil es ihm -- zu Recht -- Doppelzüngigkeit
vorwirft. Die völkerrechtliche Fragwürdigkeit der Begründungen für
die NATO-Luftangriffe auf Serbien wie für die Anerkennung des Kosovo
wird im Kreml aufmerksam registriert und als argumentative Keule
benutzt.

Kann sich das rückständige Russland, das Großmacht sein will,
einen Kurs der Selbstisolierung überhaupt leisten?
Prof. Luchterhandt: Nein. Es muss schon bald beidrehen und dem Westen
Angebote zur Annäherung machen. Umso mehr, weil es in der
unangenehmen Lage ist, sowohl in der Shanghai-Gruppe als auch in der
GUS isoliert zu sein. Es ist auf eine enge Zusammenarbeit mit den
Hochtechnologieländern im Westen angewiesen, um seine Probleme zu
lösen.

Krankt Russland an einer Fixierung auf den Westen als dem alten
Gegner, während ihm in China ein viel gefährlicherer Rivale erwächst?
Prof. Luchterhandt: Ja, wobei Teile der russischen Publi"zis"tik im
höchsten Maße beunruhigt sind über die weitgehende Entvölkerung des
rohstoffreichen Sibiriens, wo nur noch maximal 30 Millionen Russen
leben, während jenseits der Grenze bis zu 300 Millionen Chinesen
leben. Hier ziehen große Gefahren herauf. Zudem hat Russland der
Finanzweltmacht China auf ökonomischem Gebiet überhaupt nichts
entgegenzusetzen. Würde sich auch Moskau dem Freihandelsregime der
WTO unterwerfen, würden russische Produkte von der chinesischen
Konkurrenz vom Markt gefegt werden.
Das Interview führte Joachim Zießler

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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