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Freiwillige Sorgearbeit reproduziert geschlechterspezifische Ungleichheiten

Geschrieben am 25-03-2019

Fulda (ots) - In sorgenden Gemeinschaften sollen freiwillig
Engagierte neben professionellen Dienstleistern eine Mitverantwortung
für die Versorgung und Unterstützung älterer Menschen übernehmen. So
will es die Politik. Doch Sorgearbeit gilt nach wie vor als weiblich.
Yvonne Rubin, Sozialwissenschaftlerin an der Hochschule Fulda, hat
untersucht, wie ehrenamtliche Sorgearbeit traditionelle Rollenmuster
verfestigt. Sie zeigt: Für beide Seiten - die freiwillig Engagierten
wie die auf Unterstützung Angewiesenen - ist die derzeitige Praxis
weder bedürfnisgerecht noch praktikabel.

Die Lösung scheint auf den ersten Blick einfach: Um Sorgelücken zu
schließen, rufen Politiker nach freiwillig Engagierten, die Aufgaben
in der Sorgearbeit für ältere Menschen übernehmen. Yvonne Rubin,
Sozialwissenschaftlerin an der Hochschule Fulda, hat in einer
empirischen Studie untersucht, was das für die Gleichstellung
bedeutet und welche Folgen sich daraus für die freiwillig Engagierten
wie die auf Hilfe angewiesenen älteren Menschen ergeben. Die Arbeit
entstand als Dissertation im hochschulübergreifenden
Promotionszentrum Soziale Arbeit und wurde an der Hochschule Fulda
von Prof. Dr. Monika Alisch betreut. Ihre Kernthese: Die
Unterstützung und Versorgung älterer Menschen in Form eines
freiwilligen Engagements reproduziert geschlechterspezifische
Ungleichheiten.

Derzeitige Organisation der Sorgearbeit geht zu Lasten von Frauen

Sorgende Tätigkeiten, so zeigt die Autorin, sind noch immer
weiblich konnotiert und werden vornehmlich von Frauen erbracht. Der
Ruf nach freiwilligem Engagement zur Versorgung und Unterstützung
älterer Menschen gehe damit in erster Linie zu Lasten der Frauen.
Häufig reduzierten Frauen ihre Erwerbsarbeit, zahlten dadurch
geringere Rentenbeiträge, nähmen nicht nur finanzielle Einbußen durch
Teilzeitarbeit in Kauf, sondern langfristig gesehen auch geringere
Rentenzahlungen. "Das fördert das Risiko der Altersarmut von Frauen",
argumentiert Yvonne Rubin und erläutert: "Wer im Alter nur eine
geringe Rente erhält, ist am wahrscheinlichsten auf freiwilliges
Engagement angewiesen - ob als Empfängerin von Hilfeleistungen, weil
kein Geld für professionelle Unterstützungsleistungen vorhanden ist,
oder als freiwillig Engagierte, weil sogenannten
Aufwandsentschädigungen für die freiwillige Tätigkeit als
Zusatzeinkommen benötigt werden."

Auch die Problematik, Erwerbsarbeit und sorgende Tätigkeiten
miteinander zu verbinden, bleibe unter den derzeitigen
Voraussetzungen in erster Linie ein Problem der Frauen. Denn durch
eine nahezu ausschließliche Fokussierung auf Erwerbsarbeit stünden
dafür kaum ausreichende Zeitressourcen zur Verfügung. "Wer die
derzeitige Organisation sorgender Tätigkeiten fördert, fördert auch
geschlechtsspezifische Ungleichheiten", bringt es die Fuldaer
Sozialwissenschaftlerin auf den Punkt.

Vereine kategorisieren Leistungen wie professionelle Anbieter

Dass neben den strukturellen Rahmenbedingungen auch die
Akteurinnen und Akteure in den Bürgerhilfevereinen dazu beitragen,
geschlechterspezifische Ungleichheiten zu reproduzieren, zeigt Yvonne
Rubin am Beispiel zweier Vereine auf. So arbeitet sie heraus, dass
sorgende Tätigkeiten hier ähnlich klassifiziert werden wie in der
beruflichen Pflege. Die Akteurinnen und Akteure unterscheiden
zwischen Tätigkeiten von höherem und geringerem Stellenwert, zwischen
geeigneten und ungeeigneten Tätigkeiten, um zu helfen.

Geeignet erscheinen demnach standardisierbare Tätigkeiten, wie
eine Fahrt zum Arzt oder ein Einkauf. Sie werden als 'Hilfe'
verstanden. Anders solche Tätigkeiten, die darauf ausgerichtet sind,
soziale Teilhabe zu ermöglichen, wie etwa sogenannte Waffelcafés. Sie
werden nicht als Hilfe bewertet und gelten als zusätzliche, im
Stellenwert geringere Angebote des Bürgerhilfevereins, als
Freizeitangebote - und werden ausschließlich von Frauen durchgeführt.

Diese Kategorisierung wirke sich auch auf diejenigen aus, die die
Leistungen der Bürgerhilfevereine in Anspruch nehmen. Denn mit ihren
Bedürfnissen werde ähnlich verfahren: Bedürfnisse, die sich auf
Gemeinschaft und damit auf weiblich konnotierte Werte wie
Emotionalität, Empathie und Anteilnahme beziehen, werden im Vergleich
zu Bedürfnissen wie eine Begleitung zum Arzt nicht als legitim
anerkannt und auf diese Weise abgewertet.

Derzeitige Strukturen produzieren neue Sorgelücken

So kommt die Fuldaer Sozialwissenschaftlerin zu dem Schluss, dass
die derzeitige Praxis der Sorgearbeit gleich aus mehreren Gründen als
problematisch zu werten ist:

Erstens produziere die Vergesellschaftung der Sorgearbeit unter
den genderspezifischen Rahmenbedingungen neue Versorgungslücken,
indem sie weibliche Altersarmut begünstige.

Zweitens komme den weiblich konnotierten Gemeinschaftsangeboten
ein nur geringer Stellenwert zu, obwohl aus der Sicht der älteren
Menschen gerade hier großer Bedarf bestehe.

Und drittens könne das Ehrenamt schon heute die Versorgungslücken
nicht füllen. "Über die Interessensorientierungen freiwillig
engagierter Personen wissen wir: Sie entscheiden, wo sie sich
engagieren, wie oft und wie lange. Sie engagieren sich
schwerpunktmäßig in kurzfristigen Projekten. Und sie entscheiden
auch, wann sie sich nicht mehr engagieren wollen", sagt Yvonne Rubin.
Die Übernahme sorgender Tätigkeiten brauche in der Regel jedoch ein
langfristiges und verbindliches Engagement. Eine Übernahme sorgender
Tätigkeiten könne nicht in kurzfristigen Projekten erfolgen, betont
die Fuldaer Sozialwissenschaftlerin.

Sorgearbeit braucht bedürfnisorientierte Rahmenbedingungen

Yvonne Rubin zieht daraus den Schluss: "Wir brauchen für die
Sorgearbeit Rahmenbedingungen, die eine Bedürfnisorientierung sowohl
auf Seiten der Sorge-Leistenden, als auch auf Seiten der
Sorge-Inanspruchnehmenden ermöglichen." Der Schlüssel dafür läge in
grundsätzlich anderen Strukturen: So forderten Sorgende und
Sorgeempfangende derzeit in bundesweiten Zusammenschlüssen eine
generelle Reduktion der Erwerbsarbeit auf 30 Stunden pro Woche.
"Sorgende Tätigkeiten und die Übernahme sorgender Tätigkeiten dürfen
zudem nicht länger in erster Linie aus der Perspektive der
Arbeitgebenden und somit möglichst geringer Lohnnebenkosten
verhandelt werden, wie es für die derzeitige Pflegeversicherung
gelte", fordert sie.

Obgleich sich die Bedingungen für Sorgearbeit momentan als ein
Problem darstellten, das vor allem Frauen betreffe, so handle es sich
um ein gesamtgesellschaftliches Problem. Männer, die Sorgearbeit
übernähmen, stünden ebenso vor der Herausforderung, Erwerbsarbeit und
sorgende Tätigkeiten miteinander zu vereinbaren, und müssten bei
Teilzeitarbeit ebenso geringere Rentenzahlungen in Kauf nehmen. "Die
derzeitige Praxis ist schlecht für alle", betont Yvonne Rubin und
gibt zu bedenken: "In unseren Lebensverläufen sind wir alle zu
unterschiedlichen Zeitpunkten auf sorgende Tätigkeiten und auf die
Möglichkeit, diese übernehmen zu können, angewiesen."

Yvonne Rubin
Freiwilliges Engagement in 'sorgenden Gemeinschaften'. Eine
geschlechterkritische Analyse ehrenamtlicher Care-Arbeit für ältere
Menschen
Beiträge zur Sozialraumforschung, Band 19
Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich 2018
ISBN 978-3-8474-2242-6

Zum Promotionszentrum Soziale Arbeit

Seit 1. Januar 2017 haben die Hochschule RheinMain, die Frankfurt
University of Applied Sciences und die Hochschule Fulda das
Promotionsrecht für die Fachrichtung Soziale Arbeit im Rahmen eines
gemeinsamen, hochschulübergreifenden Promotionszentrums. Durch die
hochschulübergreifende Vernetzung ergeben sich für die drei
Partnerhochschulen erhebliche Synergien bei der Förderung des
wissenschaftlichen Nachwuchses. Das Promotionszentrum mit Sitz in
Wiesbaden ist eine wissenschaftliche Einrichtung der drei
Partnerhochschulen. Die Arbeit von Yvonne Rubin ist die insgesamt
dritte Promotion in dem Zentrum und die erste, die an der Hochschule
Fulda betreut wurde.



Pressekontakt:
Wissenschaftlicher Kontakt:
Dr. Yvonne Rubin
E-Mail: yvonne.rubin@sw.hs-fulda.de

Pressestelle der Hochschule Fulda
Dr. Antje Mohr
Tel.: 0661 9640-1050
E-Mail: antje.mohr@verw.hs-fulda.de

Original-Content von: Hochschule Fulda, übermittelt durch news aktuell


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