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Sind wir alle ein bisschen verrückt? / Der Ärztliche Direktor der Heinrich-Heine-Klinik, Prof. Rüdiger Höll, bewertet die Neufassung der amerikanische "Bibel der Psychiatrie" DSM-5 (BILD)

Geschrieben am 26-06-2013

Potsdam (ots) -

Das Akronym "DSM-5 " geistert zur Zeit durch die psychiatrische
Fachwelt. Ausgeschrieben handelt es sich um die fünfte Fassung des
"Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders", Standardwerk
der American Psychiatric Association (APA) über seelische und
geistige Krankheiten. Seit 2012 bearbeiteten 13 Arbeitsgruppen die
vierte Fassung. Mehr als 13.000 Kommentare und 12.000 E-mails und
Briefe haben die Autoren bekommen und Ende Mai wurde die fünfte
Neuauflage veröffentlicht.

Der US-amerikanische Diagnosekatalog DSM-5 wird auch in
Deutschland gerne als "Bibel der Psychiatrie" bezeichnet, obgleich im
deutschen Gesundheitssystem das Klassifikationssystem ICD
(International Statistical Classification of Diseases and Related
Health Problems = Internationale statistische Klassifikation der
Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) genutzt wird. Derzeit ist ICD-10
gültig. Doch das amerikanische Standardwerk wird wohl auch die
Neufassung ICD-11 beeinflussen, die für 2015 von der WHO geplant ist
und wofür die Organisation im Internet schon heute Vorschläge und
Beiträge sammelt.

Zum DSM-5 kursieren inzwischen weltweit viele kritische Artikel
und Kommentare. Die Kritiker fürchten, dass bald jede Störung als
Krankheit diagnostiziert wird. So warnte die Deutsche Gesellschaft
für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
(DGPPN) in einem Beitrag in der "Süddeutschen Zeitung" vor einer
Überdiagnostik.Es bestehe die "Gefahr der Pathologisierung von
alltäglichen Leidenszuständen sowie von natürlichen Anpassungs- und
Alterungsprozessen", erklärte DGPPN-Präsident Wolfgang Maier.

Vier der insgesamt bundesweit acht Dr. Ebel Fachkliniken in
Bayern, Brandenburg, Hessen und Thüringen sind Fachkliniken für
Psychosomatik und Psychotherapie und bieten umfassende und
ganzheitliche Therapien, Behandlungskonzepte und Rehabilitation für
eine Vielzahl psychischer und psychosomatischer Krankheiten an. Die
Heinrich-Heine-Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie in Potsdam
Neu Fahrland deckt ein breites Spektrum psychosomatischer und
psychiatrischer Diagnosen ab.

Der Ärztliche Direktor, Prof. Dr. Rüdiger Höll, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie, spricht aus der täglichen Praxis:

Frage: Welche Diagnose-Klassifizierung ziehen die Fachärzte der
HHK zur Einschätzung psychischer Erkrankungen zu Rate?

Prof. Höll: Unsere Fachärzte berufen sich auf das international
anerkannte Klassifizierungssystem der WHO, derzeit die ICD-10. Dazu
sind sie übrigens gesetzlich verpflichtet. Rentenversicherungsträger
und Krankenkassen übernehmen auch nur Kosten, wenn die Therapie nach
ICD-10 begründet ist. Und ohne ICD-10 Diagnose gibt es kein Geld. Für
uns ist die ICD-10 Grundlage von Diagnostik und Behandlung. Aber
natürlich kennen unsere Psychiater und Fachärzte für psychosomatische
Medizin auch die "amerikanische Psycho-Bibel" DSM.

Frage: Teilen Sie die Kritik des DGPPN-Fachverbandes, dass die
Amerikaner im DSM-5 aus zu vielen alltäglichen Störungen eine
Krankheit machen, so dass selbst "abgeschwächte Psychose-Syndrome"
zum eigenständigen Krankheitsbild werden?

Prof. Höll: Ja, diese Gefahr besteht. Das Problem von DSM-5 ist,
dass die Grenzen zwischen krank und gesund immer unschärfer werden,
dass Symptome vermischt werden und häufiger Fehldiagnosen möglich
werden. Als das DSM 1952 zum ersten Mal erschien, wollte man die
Fachwelt glauben machen, man könne für sämtliche psychosomatische und
psychopathologische Erkrankungen biologische Ursachen finden. Dies
ist bis heute nicht gelungen. Das Klassifizierungssystem DSM bleibt
an der Forschung orientiert und arbeitet nach wie vor mit
Kategorisierungen.

Frage: Der bekannte US-Psychiater Allen Frances sagt, schon mit
DSM-IV "haben wir Epidemien wie das
Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS erschaffen". Wird DSM-5
neue psychische Krankheitsbilder schaffen?

Prof. Höll: Ja, das ist zu befürchten. Früher nannte man
ADHS-Kinder "Zappelphilipp" und schickte sie für drei Stunden auf den
Fußballplatz. Heute schlucken sie Ritalin und bewegen nur noch den
Daumen übers Smartphone. Gerade bei ADHS wird heute schnell Ritalin
verordnet, obgleich die gesundheitliche Gefährdung bekannt ist. Wenn
nun beispielsweise Essstörungen als psychische Krankheit
diagnostiziert wird, birgt dies auch die Gefahr der Etikettierung,
von der ein Patient nur schlecht wieder weg kommt. Leistungsanspruch
gegenüber Kostenträgern entsteht jedoch nicht. Besonders heftig ist
das bei der Binge-Eating-Disorder. Die Patienten haben Essanfälle,
erbrechen aber nicht und nehmen dementsprechend zu. Ist das nun eine
Verhaltenssache oder eine nichtstoffgebundene Essstörung?

Frage: Kann es sein, dass eine Erweiterung der psychiatrischen
Krankheitsbilder vor allem im Interesse der Pharmaindustrie liegt,
die mit teuren Psychopharmaka gute Geschäfte macht.

Prof. Höll: Der Einfluss der Pharmaindustrie ist nicht zu
übersehen. Das DSM-5 geht weg von der Ursachenforschung, hin zu
einer standardisierter Therapieleitlinie. Ob die Depressivität aus
einer Trauer oder einem Jobverlust entsteht wird da nicht
berücksichtigt. Da wird dann schnell eine Depression als leicht,
mittelschwer oder schwer diagnostiziert und das passende Medikament
dazu verschrieben. Wir erleben einen rasanten Wandel der
Industriegesellschaft mit einer gravierenden Zunahme der
psychosozialen Erkrankungen. Vielleicht kann das DSM dem Umdenken in
der Gesundheitspolitik Vorschub leisten und zum Beispiel Prävention
oder Frühintervention anschieben.

Frage: In welchem Maße werden der amerikanische Diagnosekatalog
DSM-5 und die darin aufgeführten Diagnosen in die Neufassung des
WHO-Katalogs ICD-11 Einzug halten?

Prof. Höll: Das ICD hat sich schon ab seiner 9. Fassung dem DSM
angenähert, auch in der Frage der medikamentösen Behandlung. Bis
ICD-8 stand immer noch die ursächliche Betrachtung im Vordergrund.
Sprach man früher etwa bei Patienten mit Störungen, die aus einer
schweren Kindheit resultierten von einer biographischen Depression,
so wird heute eine mittelschwere Depression daraus, die dann als
"Mittelschwere Depressive Episode" gemäß Behandlungsleitlinien mit
Antidepressiva behandelt werden muss. Abweichen von bestehenden
Leitlinien muss extra begründet werden. Die Auseinandersetzung mit
der Kindheit wird verschoben oder findet nicht statt. Viele Menschen
laufen u.a. dadurch mit verborgenen Traumata umher.

Frage: Sind wir bald alle ein bisschen verrückt?

Prof. Höll: Ja, eigentlich hat jeder eine kleine Macke, das ist
Normalität! Es ist ja nicht nur in der Psychiatrie so, wer mit einem
Wehwehchen zum Arzt geht, kommt mit einer Krankheit aus der Praxis.
Nehmen Sie beispielsweise die Symptom-Checklist SCL90: als nicht mehr
gesund gilt jemand, der mehr als vier Beschwerden hat. Unter vier
gilt als gesund. Ein befreundeter Internist hat mir erzählt, dass bei
normalen Bluttests im Durchschnitt jeder Getestete 3,7 Abweichungen
vom Normalzustand hat, also krank ist. Dabei gilt nach WHO-Standard
jemand nur mit Null Abweichungen als "völlig geistig, seelisch und
körperlich gesund".



Pressekontakt:
Siegfried Knauer-Runge, Pressereferent
Telefon: 033208-56651
Email: presse(at)heinrich-heine-klinik.de


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