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Börsen-Zeitung: Die Kernschmelze, Kommentar zum Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers von Bernd Wittkowski

Geschrieben am 15-09-2008

Frankfurt (ots) - Zweiundzwanzig Jahre nach dem Super-GAU in der
Ukraine erlebt die Finanzwelt ihr eigenes Tschernobyl. Die
Kettenreaktion im Banken-AKW hat vor gut einem Jahr mit dem
Subprime-Desaster begonnen, das zusehends außer Kontrolle geriet.
Eine gemeingefährliche Erhitzung der Brennstäbe war die Folge: IKB,
Bear Stearns, Sachsen LB, Northern Rock, Merrill Lynch, Citi, UBS,
IndyMac, Fannie Mae, Freddie Mac - et cetera. Und nun also der
Bankrott der viertgrößten US-Investmentbank Lehman Brothers und -
fast "nebenbei" - die 50 Mrd. Dollar schwere, der Vermeidung einer
noch größeren Explosion dienende Notübernahme von Merrill Lynch durch
die Bank of America als vorläufiger "Höhepunkt" der Weltfinanzkrise:
eine Kernschmelze im Bankensystem.

Die am Montag in Wall Street freigesetzte Radioaktivität wird sich
rund um den Globus niederschlagen und weite Teile des Finanzgeflechts
auf Jahre hinaus verstrahlt zurücklassen. Die Ursachen sind jenen der
nuklearen Havarie in Tschernobyl Block IV durchaus vergleichbar:
haarsträubende Konstruktionsfehler, dilettierendes Personal und
totales Versagen sämtlicher Sicherheitsmechanismen bzw. teilweise
sogar deren bewusste Ausschaltung.

Wer, wie gestern die DekaBank, angesichts der Dramatik der
Ereignisse von einem "reinigenden Gewitter" spricht, offenbart ein
besonderes Faible für schwarzen Humor. Oder er verkennt die Tragweite
der vom früheren US-Notenbankchef Alan Greenspan als
"Jahrhundertereignis" bewerteten - und von diesem selbst durch die
Politik des billigen Geldes mitverschuldeten -
wirtschaftshistorischen Geschehnisse. Noch vor sechs Monaten gab es
in den USA fünf eigenständige reine Investmentbanken mit globalem
Anspruch. Bis heute hat die Finanzkrise drei davon zerlegt. Bear
Stearns, Nummer 5 der Branche, wurde im März mit generöser
30-Mrd.-Dollar-Risikoübernahme der Fed herausgepaukt und zum
Spottpreis der Universalbank JPMorgan zugeschlagen. Merrill flüchtet
sich jetzt in die starken und rettenden Arme der Bank of America, die
Anfang des Jahres schon den maroden Hypothekenfinanzierer Countrywide
auffangen durfte und der Rolle eines Lumpensammlers im
US-Finanzgewerbe offenbar nicht abgeneigt ist. Lehman Brothers
schließlich, die Schutz vor ihren Gläubigern beantragen musste, steht
vor Zerschlagung und Abwicklung. Da waren's nur noch zwei: Goldman
Sachs und Morgan Stanley.

Lehman wäre besser ein paar Wochen früher in höchste Not geraten.
Aber nach Fannie, Freddie & Co. war aus Sicht Washingtons selbst eine
Bank mit 600 Mrd. Dollar Bilanzvolumen und 158 Jahren Tradition "not
too big to fail". Irgendwann ist es eben nicht mal mehr dem
Steuerzahler zuzumuten, ständig die Zeche der Zocker zahlen zu
müssen. Diese kaum noch erwartete Konsequenz und der dahinter
stehende Mut der US-Regierung sind uneingeschränkt zu begrüßen.
Andernfalls hätte bald noch der letzte Investor geglaubt, im
Finanzkasino gälten für die Moral-Hazard-Generation eigene Gesetze:
Das Spiel ist prinzipiell ohne Risiko, Gewinne dürfen Aktionäre und
Gläubiger kassieren, Verluste trägt die Allgemeinheit.

Wie reinigend würde das "Gewitter" wohl erst sein, wenn - was die
Vernunft der Marktteilnehmer verhüten möge - womöglich noch die
führende US-Bausparkasse Washington Mutual oder der weltgrößte
Assekuranzkonzern AIG die Grätsche machte, wenn der eine oder andere
Anleiheversicherer das Zeitliche segnete oder eine weitere -
amerikanische oder europäische Großbank - von Lehman mit in den
Abgrund gerissen würde? Heute wäre angesichts des engmaschigen
weltweiten Finanznetzwerks schon die Pleite einer Bank weit
geringerer Dimension keine national begrenz- und beherrschbare
Angelegenheit mehr, auch wenn sich die direkten Engagements deutscher
Institute im konkreten Fall aus regierungsamtlicher Sicht im
"überschaubaren Rahmen" halten und der daraus resultierende
Abschreibungsbedarf verkraftbar sein mag.

Denn der Fallout von Finanz-Tschernobyl verseucht Gebiete weit
jenseits der akut betroffenen Schuldner-Gläubiger-Ebenen. Er
potenziert den ohnehin beispiellosen fundamentalen Vertrauensschaden
im globalen Bankgewerbe und kann damit zur weiteren Verschärfung der
seit dem vorigen Sommer grassierenden Liquiditätsversorgungskrise
führen. Die Notenbanken sehen sich einmal mehr gezwungen, Kriterien
und Konditionen ihrer Stützungsmaßnahmen zu lockern - was sicher kein
Beitrag zu nachhaltiger Stabilität ist.

Welche mittel- und langfristigen Folgen diese säkulare Katastrophe
für das Bankgewerbe und für die Volkswirtschaften insgesamt zeitigen
wird, lässt sich direkt nach der Kernschmelze nicht konkret
abschätzen. Die Wahrscheinlichkeit ist jedenfalls hoch, dass es für
Banken wie für Industrieunternehmen zu spürbaren Engpässen bei der
Beschaffung von Kapital und Kredit kommen wird. Und wer Assets
loswerden muss, um Löcher zu stopfen, hat einen Preisverfall zu
gewärtigen. Aber auch jene Häuser, die dank ihres eher geringen
Exposure in den von Subprime & Co. hauptbetroffenen Wertpapieren
bisher auf der Seite der Krisengewinner stehen - dazu gehören aus
heutiger Sicht cum grano salis auch die deutschen Großbanken -,
werden ihre Geschäftsmodelle auf den Prüfstand stellen müssen.
Investment Banking war gestern.

Originaltext: Börsen-Zeitung
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/30377
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Pressekontakt:
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Telefon: 069--2732-0


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