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"Ich glaube, dass wir alle versaut sind!" Anlässlich des Kinostarts von Michael Hanekes 'Funny Games U.S.' zeigt Tele 5 am 31. Mai um 00.05 Uhr das Original 'Funny Games'

Geschrieben am 27-05-2008

München (ots) - Michael Haneke im Tele 5-Exklusiv-Interview über
Dreharbeiten in den USA, zynisches Kino und Zuschauer, die in 1000
Stücke zerfetzt werden.

Tele 5: Warum sind Sie eigentlich Filmemacher geworden?

Michael Haneke: Das frage ich mich auch manchmal. Ich wäre lieber
Pianist geworden, aber da hat mein Talent nicht gereicht. Gott sei
Dank. Denn ich kenne viele Pianisten, die Mittelklasse-begabt sind.
Das ist schrecklich. Natürlich kann jeder machen, was er will. Es
interessiert mich nur dann nicht. Darum habe ich nie Shakespeare oder
Tschechow aufgeführt, obwohl ich 20 Jahre am Theater gearbeitet habe
und beides für mich zum Besten gehört, was es in der dramatischen
Literatur gibt: Weil ich mich das nicht getraut habe. Weil ich es
unverantwortbar fand, notwendig so meilenweit hinter dem Autor
zurückzubleiben. Diese permanente Form von Scheitern wollte ich mir
nicht antun. Als Filmemacher fühle ich mich dem Autor Haneke
gewachsen. Das ist eine gute Lösung. [Lacht] Wenn Sie selber die
Drehbücher schreiben und sie verfilmen, ist die Chance, eine
Identität zwischen Inhalt und Form zu finden, größer als in jeder
anderen Kunst.

Es gibt den speziellen Haneke-Touch, einen Blick auf die Dinge und
die Verhältnisse. Wie würden Sie Ihre Filme im Kern charakterisieren?

Meine Position dem Kino gegenüber entstand über den Verlust der
Illusion. Wer das Kino nicht kennt, hat nicht die Distanz, die für
seine Erfahrung nötig ist. Und die Gefahr der Manipulation ist somit
viel größer. Das ist das Thema. Ich erfahre es immer wieder - selbst
bei meinen Wiener Studenten, die sich immerhin mit Film beschäftigen,
aber doch in einer ganz naiven Weise mit dem Medium umgehen.

Wie ließe sich solche Naivität aufbrechen?

Über den Schock. Filme müssen einen Nerv treffen. Je schmerzhafter
die Wunde ist, umso mehr werden sich die Leute auch dafür und dagegen
entscheiden. Und das ist es schon, was ich als Filmemacher will, denn
das ist auch das, was ich selber will, wenn ich ins Kino gehe.
Der Film, der mich in meinem Leben am meisten weiter gebracht hat,
war seinerzeit 'Die 120 Tage von Sodom' von Pasolini. Der hat mich
völlig fertig gemacht. Pasolini zeigte Gewalt als das, was sie
wirklich ist: Leiden der Opfer. Das fand ich unerträglich. Das ist
bis heute der Film, der mich am meisten aus der Bahn geworfen hat.
Ich hab den auch nur einmal gesehen. Zuhause liegt eine DVD, aber ich
habe bis heute nicht gewagt, ihn mir noch mal anzuschauen. Damals
habe ich mich ununterbrochen gefragt: Halte ich das noch aus? Muss
ich jetzt kotzen? Ich war drei Wochen krank nach diesem Film. Der ist
ja unerträglich. Aber der hat mich wirklich sehr viel nachdenken
lassen.
In einer Gesellschaft wie der unserigen kann man Kino oder
dramatische Kunst im weitesten Sinn nur so machen. Man kann sie nicht
konsensuell machen. Dann ist man dumm. Oder feig oder zynisch.

Bei Ihrem Film FUNNY GAMES ist Ihnen 1997 ja auch von Teilen der
Kritik vorgeworfen worden, dass Ihr Umgang mit Gewalt Selbstzweck
sei, dass es Ihnen nur um Provokation ginge...

Ich bin überhaupt kein Provokateur! Aber mit dem Film wollte ich
tatsächlich provozieren. Der Film sollte eine Ohrfeige sein, eine
aufdeckende Ohrfeige. Weil mich diese Art, wie Gewalt normalerweise
im Kino dargestellt wird, einfach ankotzt. Weil sie immer
konsumierbar dargestellt wird. Und ich wollte sie einmal
unkonsumierbar machen

Aber es kann ja eigentlich nicht ein gewünschter Erfolg sein, wenn
man dann als Zuschauer rausgeht...

Doch, in einem gewissen Maße. In so einem Fall schon. Es ist
vielleicht kein Erfolg... Aber das so genannte "normale" Publikum,
das emotional reagiert - warum müssen die sich das anschauen, obwohl
es eigentlich widerlich ist? Nur weil es spannend ist? Ich will den
Zuschauer zu der Frage bringen, warum er nicht rausgeht. Im
Hollywood-Mainstream zahlt der Zuschauer dafür das Geld, dass er
seine Aggressionen ausleben kann ohne schlechtes Gewissen. Das finde
ich zynisch. Wir, die wir hier sitzen, sind dafür überhaupt nicht
repräsentativ, denn wir sind Fachidioten.

Aber Filmkritiker reagieren natürlich auch emotional...

Ja klar. Ich habe gar kein Problem damit, dass Leute meine Filme
missverstehen. Das liegt in der Natur der Sache. Es ist ja ein Thema
von allen meinen Filmen, dass Kommunikation eine sehr beschränkte
Sache ist.

Sind Sie Zivilisationspessimist?

Natürlich.

Warum?

Aufgrund von Beobachtung. Da muss ich gar nicht forschen. Das
fällt ins Auge. Ich glaube in der Tat, dass wir alle versaut sind.
Durch eine Form von Realitätswiedergabe und Illusionierung in den
Medien, der wir nicht gewachsen sind. Und je jünger Menschen sind,
umso weniger sind sie diesen Formen gewachsen.

Gibt es Filmemacher, denen Sie nacheifern, die Sie beeinflusst
haben?

Inwieweit ich "beeinflusst" bin, das müssen die Kritiker
feststellen. Ich will es gar nicht wissen. Da wird man nur steril.
Einflüsse, sofern sie bewusst werden, lähmen einen ja. Es kostet
Kraft, zu vermeiden, dass sie sichtbar werden. Bresson hat einmal mit
einem Stendhal-Zitat geantwortet: es sind die anderen Künste, die
mich die Kunst des Schreibens gelehrt haben. So könnte ich es auch
sagen. Literatur ist mir am wichtigsten. Dann kommt die Musik. Aber
ich könnte keinen Einfluss geltend machen.
Die zwei Filmemacher, die mich am meisten beeinflusst haben, sind
sicher Bresson auf der einen Seite, Hitchcock auf der anderen. Weil
beide in ihrem Bereich absolute Meister sind.

Also die Reduktion und die Manipulation?

Hitchcock ist ja nur an der Oberfläche ein Manipulator. Wenn man
genau hinschaut, ist er der Analysator der Manipulation. Einfach so
die Leute zu manipulieren, ist ja leicht.
Aber der Thrill ist bei ihm nur ein Mittel, um die Geschichte zum
Rollen zu bringen. Das gilt auch für meine Filme FUNNY GAMES oder
CACHÉ. Darum gibt es dort gar keine "Lösung" am Schluss.

Ist das eine Absage an das Geschichtenerzählen?

Nein, ich muss die Geschichte als Vehikel benutzen, um etwas
erzählen zu können. Was ich erzählen will, ist die Irritation der
Zuschauer. Nur eine Irritation bewirkt wirklich etwas. Man will ja
aus dem Kino nicht so rauskommen, wie man reingegangen ist - das wäre
verlorene Zeit. Aber Thriller oder andere Genrestoffe interessieren
mich überhaupt nicht. Ich könnte am laufenden Band Thriller drehen.
Wenn man das einmal kann, dann kann man es.

Ist es ihr Hauptziel, mit der üblichen Kino-Ästhetik zu brechen?

So kann man das sagen. Kinozuschauer sind durch die irre
Geschwindigkeit heutiger Filme dazu verdammt, nur noch passiv zu
reagieren, und die Wirklichkeit auf der Leinwand nur noch in
Fragmenten wahrzunehmen. Gucken Sie sich doch bitte mal diese
wahnwitzigen Schnitte in einem 08/15-Hollywood-Film an! Darum redet
man ja von "Zerstreuungskino", weil die Zuschauer darin zerstreut
werden - im wahrsten Sinn des Wortes: In tausend Stücke zerfetzt
werden sie von den Eindrücken in ihrer Fülle. Man muss dem Zuschauer
die Zeit zurückgeben, Zeit, die er braucht, um einen Gedanken zu
fassen. Und die er braucht um einen Schritt zurück zu gehen, Distanz
einzunehmen, und das Ganze zu betrachten.
Als Filmemacher kann ich nur nach Wahrhaftigkeit fragen. Ich
bezweifle, dass ein Zuschauer durch das Betrachten eines Films der
Wahrheit näher kommt. Ein Film ist 24mal Lüge pro Sekunde. Vielleicht
dienen diese Lügen einer höheren Wahrheit, aber längst nicht immer.
Das gilt natürlich auch für meine eigenen Filme.

Trotzdem haben Sie sich jetzt erstmals auf einen US-Film
eingelassen: Ein Remake Ihres zehn Jahre alten Films FUNNY GAMES.
Warum?

Warum nicht? Der Film ist damals in den USA völlig untergegangen.
Jetzt spielen US-Stars mit wie die Naomi Watts - eine ganz großartige
Darstellerin übrigens -, da kann er von einem amerikanischen Publikum
gesehen werden, die geht das genauso an wie Europäer. Natürlich bin
ich nicht blöd: Ich habe vertraglich sicher gestellt, dass es auch in
diesem Fall ganz ein Haneke-Film wird. Es war meine Bedingung,
völlige Freiheit zu bekommen. Das war hier der Fall. Im Prinzip hat
man mir schon seit Ewigkeiten angeboten, etwas in den USA zu machen,
aber das hat mich nie gereizt. Jetzt aber hat es mich gereizt, auch
auszuprobieren, wie meine Art Filme zu machen, dort funktioniert.

Wie war die Erfahrung, in den USA zu drehen?

Das war schon eine sehr spezielle Erfahrung: ich hatte mir
ausbedungen, dass sie meine Art zu arbeiten akzeptieren, dass ich
Final Cut habe. Aber in der Praxis sieht alles etwas anders aus. Die
Gewerkschaften, die ja eigentlich in den USA recht ohnmächtig sind,
beeinflussen mit ihren strengen Richtlinien die ganze Arbeit. Wenn
man als Regisseur eine Mineralwasserflasche auf einen Tisch stellen
will, dann darf man das nicht selbst tun, es geht wie beim Spiel
"stille Post" über 20 Stationen, bis einer das dann eine Stunde
später macht.

In FUNNY GAMES und dessen neuen US-Remake geht es um das
Eindringen der Katastrophe in den scheinbar sicheren Alltag einer
bürgerlichen Familie...

Ja, meine Filme wenden sich natürlich an die Zuschauer der reichen
Länder Europas. Das ist eine ungemein verwöhnte Gesellschaft, die
andere Gebiete der Erde ausnutzt. Diese verwöhnte Gesellschaft erlebt
nun eine Katastrophe - in einem privaten Raum ereilt sich der
Schrecken. Natürlich nicht so, wie in einem Hollywood-Film. Hollywood
entwirklicht Schrecken und Gewalt immer. Um das Publikum in den
Wohlstandsländern zu packen, muss ich eine offenkundig in Wohlstand
und Bildung lebende Familie nehmen, und ihr die Sicherheit rauben.
Nur so geht das auch für die Zuschauer. Und das ist ja die Aufgabe
von Kino: Nicht Zerstreuung, sondern das Nehmen der Sicherheiten. Die
Zuschauer sollen sich infrage stellen. Darum zeige ich Figuren, denen
das passiert - als Stellvertreter des Publikums sozusagen. Aber
glauben Sie jetzt nicht, ich wüsste immer die Antwort. Ich weiß
vielleicht eine Frage. Und ich finde es viel produktiver, dem
Publikum Fragen mitzugeben, als Antworten.

Interview: Rüdiger Suchsland

Textrechte: ©Presse Tele 5, Verwertung honorarfrei nur bei
Programmhinweis auf Tele 5.

Wir lieben Kino.
Tele 5. Der Spielfilmsender

Originaltext: Tele 5
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Pressekontakt:
Tele 5: Michaela Simon, Jochem Becker
Tel. 089-649568-175, -176, Fax. -119, E-Mail: presse@tele5.de
Informationen und Bilder zum Programm auch auf www.tele5.de in der
Presselounge


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