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Landeszeitung Lüneburg: Wir nehmen die Gefahr nicht ernst genug Potsdamer Rechtsextremismusexperte Gideon Botsch befürchtet nach dem Mord an Walter Lübcke weiteren Rechtsterror

Geschrieben am 20-06-2019

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Hätte der Mörder von Walter Lübcke "Allahu akbar" gerufen, wäre
sofort das Etikett "islamistischer Terror" aufgepappt worden. Im Fall
von Kassel wird dagegen eher vorsichtig ein rechtsextremistischer
Hintergrund konstatiert. Verharmlosen wir, wenn wir das Wort
"Rechtsterror" vermeiden? Apl. Prof. Dr. Gideon Botsch: Ja, absolut.
Wir verharmlosen ebenso, wenn wir von "Reichsbürgern" sprechen, als
ob dies harmlose Spinner wären. Oder wenn wir Waffenfunde einer
Hobby-"Prepper"-Szene zurechnen, also Menschen, die sich auf den
vermeintlich bevorstehenden Weltuntergang vorbereiten - auch dort, wo
eindeutig rechtsextremistische Inhalte kommuniziert werden.

Politisch motivierte Gewalt kommt - mit 20 500 von
36 000 Fällen - vor allem aus dem rechtsextremen Spektrum. In
Umfragen dominiert dennoch die Angst vor islamistischem Terror. Sind
wir wegen der Fixierung auf der Wut der Islamisten blind für die Wut
der Islamhasser? Botsch: Blind sind wir dafür nicht. Aber
offensichtlich wird die islamistische Bedrohung sehr viel stärker
empfunden und dies durchaus aus nachvollziehbaren Gründen. Das hängt
damit zusammen, dass Dschihadisten mit ihrem Terror darauf abzielen,
das Gefühl zu geben, ihr seid immer und überall angreifbar.
Tatsächlich ist die Gefahr, in Deutschland Opfer eines islamistischen
Anschlags zu werden, statistisch extrem viel niedriger als etwa in
Afrika, der arabischen Welt oder auch Israel. Aber die Angst ist
größer, wenn man etwa über den Breitscheidplatz geht, weil dieser auf
ewig die Bilder des Terrors mit einem Lkw als Waffe im Geist wieder
hervorruft. So funktioniert islamistischer Terror, hingegen
rechtsextremistischer eher nicht. Der funktioniert so, dass eher
ausgewählte und markierte Zielgruppen in Angst und Schrecken versetzt
werden sollen. Teilweise sogar nur diese Zielgruppen, für die
allgemeine Öffentlichkeit begnügen Rechtsterroristen mit dem
Hervorrufen eines diffusen Gefühls der Beunruhigung. So geht die
Frage, warum die NSU-Täter keine Tatbekenntnisse abgegeben haben, in
die falsche Richtung. Zunächst mal ist das nicht ganz richtig, denkt
man an die Videos. Und es liegt in der Logik der Sache. Dreifacher
Erfolg ist sicher: Die rechtsextremistische Szene weiß, dass man
gehandelt hat. Die Opfergruppe weiß sehr genau, dass sie aufgrund
einer rassistischen Auswahl ins Visier geraten ist und getroffen
wurde. Die übrige Bevölkerung hat das Gefühl, es werde alles immer
schlimmer und unsicherer. Und das hänge irgendwie mit den Türken,
Arabern und sonstigen Zugewanderten zusammen.

Wächst die Gefahr von Bluttaten, weil die Träume der Szene von
einer AfD-Machtübernahme bei Wahlen zuletzt Dämpfer erhalten haben?
Botsch: Genau dieses Szenario macht die aktuelle Situation so
riskant. Wenn die Mobilisierungswelle im Zuge des Flüchtlingszuzugs
stagniert, könnte der Frust Zellen erneut mobilisieren und
radikalisieren. Bis Mitte 2018 wurde auf flüchtlingsfeindlichen
Straßenprotesten der Umsturz propagiert. Es entstand eine Stimmung,
dass man bald Berlin stürmen werde. Ein Durchmarsch wie 1989 in der
DDR erschien möglich. Parallel reihte die AfD einen Wahlerfolg an den
nächsten. Diese Stimmung ist seit September massiv abgeflaut. Zudem
wird erkannt, dass die AfD in absehbarer Zeit keine Regierung wird
dominieren können. Ich habe seit längerem erwartet, dass in einer
derartigen Situation Einzeltäter oder einzelne Zellen alte Strategien
des Rechtsterrorismus wiederbeleben werden. Und der Mord von Kassel
passt in dieses Raster. Die nächsten ein- bis eineinhalb Jahre werden
in Hinblich auf frustrierte Gewalttäter besonders gefährlich.

Kommen zu den alten Strategien neue Mittel? Wie sehr treibt die
rechte Hetze im Netz die Radikalisierung voran? Botsch: Zunächst mal
kommen neue Kreise zu den alten Netzwerken hinzu, denen offenbar der
Kasseler Haupttäter zuzurechnen ist. Was ich sehr beunruhigend finde,
ist, dass wir erstmals seit Jahrzehnten davon ausgehen müssen, dass
es entsprechende Netzwerke bei den Sicherheitskräften gibt. Hinzu
kommen Personen, die dieser Szene vordem nicht nahestanden, aber
Vorbilder im Internet finden und sich dort radikalisieren. Außerdem
ist das Internet ein ganz zentrales Kommunikationsmittel
Rechtsextremer, sowohl für die interne Kommunikation geschlossener
Gruppen als auch für die Feindmarkierung. Herr Lübcke ist im Internet
markiert und immer wieder in Erinnerung gerufen worden. Im Ursprung
war die Situation inszeniert worden, um den Staat herauszufordern.
Aktivisten des Kasseler Pegida-Ablegers Kagida störten die
Veranstaltung und provozierten die Aussage von Herrn Lübcke, sie
mögen doch auswandern. Seitdem wurde diese Äußerung immer wieder
hervorgeholt und weiterverbreitet, um ihn als Volksverräter zu
markieren. Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand ist er nun auch als
solcher ermordet worden.

Islamisten und Rechtsextremisten stacheln sich gegenseitig an,
weil sie beide die Geschichte vom Endkampf zwischen dem Westen und
den Muslimen erzählen. Einig sind sie sich auch in ihrem
Antisemitismus. Wie sehr wächst die Gefahr für Juden in Deutschland?
Botsch: Die Gefahr für Juden in Deutschland ist groß. Wir müssen
davon ausgehen, dass die bisher oft unterdrückten judenfeindlichen
Elemente dieser Bewegung nun aus der Deckung kommen. Getreu des
alten, polnisch-jüdischen Witzes: "Wo geschlagen wird, sind immer als
Erstes die Juden dran." Erschwerend kommt hinzu, dass mögliche
Eskalationsanlässe im Nahen Osten nicht vorhersehbar sind.

Reichen die staatlichen Gegenmaßnahmen nach den NSU-Morden, nach
Altena, nach dem Angriff auf Henriette Reker und den Drohungen gegen
den Bürgermeister von Tröglitz aus? Botsch: Einige Landespolizeien
haben gut ermittelt. Ich bin nach wie vor irritiert von der
Generalbundesanwaltschaft, die beim NSU-Terror sehr schnell die These
einer kleinen Zelle aufgestellt hatte und diese erbittert verteidigt.
Obwohl sowohl im NSU-Verfahren als auch in den
Untersuchungsausschüssen sehr deutlich wurde, dass wir mit einem
größeren Umfeld rechnen müssen. Ermittlungen in diese Richtung wären
also durchaus nötig gewesen. Wenn es im Fall Lübcke tatsächlich so
gewesen ist, dass der Täter nur wegen eines DNA-Abgleiches gefunden
wurde und nicht auf Grund aktiver Ermittlungen in der rechtsextremen
Kasseler Szene, wäre dies alarmierend. Wäre der Täter nicht in der
DNA-Datenbank gespeichert gewesen, wäre er davongekommen. Wenn
Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden Neonazis weiter als dumpfe
Schläger verharmlosen; wenn sie weiter gedanklich ausschließen, dass
Nazis das tun, worin sie in Deutschland den Weltrekord halten -
nämlich zu morden -, tun sie nicht genug. Wir nehmen weder die
konkrete Gefährdungslage noch die Kreise, von denen die Gefahr
ausgeht, ernst genug.

Bei der rechtsextremen "Prepper"-Gruppe "Nordkreuz" und dem
"Hannibal"-Netzwerk mischen auch Elitepolizisten und -Soldaten mit.
Wird der Staat infiltriert? Botsch: Diese Absicht besteht und ist als
Ziel ausgegeben worden. Ich habe mich schon gewundert, warum 2015
nicht mal strafrechtliche Mittel geprüft wurden. Jürgen Elsässer, der
Herausgeber des "Compact"-Magazins, und Götz Kubitschek, der ein
wichtiger Unternehmer der Bewegung ist, haben Ende 2015 versucht,
ihrer Szene einzureden, dass das grundgesetzlich garantierte Recht
auf Widerstand in der damaligen Situation greife. Beide hofften
darauf, dass Grenzpolizisten und Bundeswehrsoldaten in ihrem Sinne
aktiv handeln und die Grenze dicht machen. Das ist unterschätzt oder
sogar übersehen worden.

Walter Lübcke war Ziel einer Hetzjagd im Netz. Sollten die
25 000 Bürger, die auf "Feindeslisten" Rechtsextremer stehen,
anders als bisher zumindest von den Behörden informiert werden?
Botsch: Ich finde, jeder, der auf einer solchen "Feindesliste" steht,
sollte dies wissen. Das muss behutsam geschehen. Aber es geht nicht
an, dass Gefährdete keine Chance haben, sich über die Art Gedanken
machen zu können, wie sie sich künftig in der Öffentlichkeit bewegen
wollen. Da, wo die Polizei ihren Job ernst nimmt, passiert das auch.

Dr. Gideon Botsch (*1970) ist Außerplanmäßiger Professor an der
Universität Potsdam. Er ist Leiter der Emil Julius Gumbel
Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus im Moses
Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Er urteilte in
einem von der SPD in Auftrag gegebenen Gutachten über ein Interview
von Thilo Sarrazin in Lettre international, dies enthalte
"rassistische, elitäre und herabwürdigende" Äußerungen.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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