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WDR/SZ-Recherche: Brüchige Reaktoren? Notkühlwasser wird in 18 europäischen Atomkraftwerken vorgeheizt

Geschrieben am 23-11-2016

Köln (ots) -
In zahlreichen Atomkraftwerken in Europa beeinträchtigen übermäßige
Alterung und Materialfehler offenbar die Stabilität der
Reaktordruckbehälter. Dafür spricht, dass nach Recherchen von WDR und
Süddeutscher Zeitung in mindestens 18 aktiven Atomreaktoren in
Tschechien, Belgien, Frankreich, Finnland und der Slowakei das
Notkühlwasser auf bis zu 60 Grad Celsius vorgeheizt wird. Dadurch
soll offenbar das Risiko verringert werden, dass der stählerne
Reaktordruckbehälter reißt, wenn er bei einem Störfall mit zu kaltem
Wasser gekühlt wird. Die Folge eines solchen Bruchs kann eine
Kernschmelze sein.

"Je länger Stahl mit Neutronen bestrahlt wird, desto spröder wird
er", sagt Michael Sailer, Atomexperte beim Öko-Institut und lange
Jahre Mitglied der Reaktorsicherheitskommission. In vielen Reaktoren
sei diese Versprödung allerdings schneller vorangeschritten als
ursprünglich berechnet. Das Notkühlwasser werde in diesen Reaktoren
vorgeheizt, "um die Spannungen bei einer Notkühlung zu begrenzen,
weil der Reaktordruckbehälter nicht mehr so stabil ist, wie er sein
sollte", sagt Wolfgang Renneberg, bis 2009 Leiter der Abteilung
Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium.

Auch Materialwissenschaftlern bereitet diese Praxis große Sorge. "Das
Vorwärmen bedeutet: entweder sind schon Risse da, die relativ groß
sind. Oder man ist unsicher, ob die Versprödung nicht vielleicht doch
größer ist, als bisher angenommen", erklärt Sicherheitsexpertin Ilse
Tweer, Mitglied des Atomforscher-Netzwerkes INRAG.

Im Februar dieses Jahres war bekannt geworden, dass in dem belgischen
Reaktor Doel-3 wegen zahlreicher Risse im Reaktorbehälter das
Notkühlwasser vorgeheizt wird. WDR und SZ liegen nun Dokumente vor,
wonach in den beiden "Schwester-Reaktoren" Doel-1 und Doel-2 bereits
1992 damit begonnen wurde, das gleiche Verfahren anzuwenden. In
Tschechien bestätigte die Betreiberfirma CEZ, dass das Notkühlwasser
in allen sechs Reaktoren des Landes bis heute vorgeheizt wird - in
Temelin sogar seit Inbetriebnahme im Jahr 2000, im AKW Dukovany seit
1992. "Das ist keine Sicherheitsmaßnahme", kommentiert ein Sprecher
der Betreiberfirma CEZ, "sondern Ergebnis einer ständigen
Verbesserung." Ziel sei lediglich, die Auswirkungen eines möglichen
Einsatzes der Notkühlung "auf die Lebenszeit des
Reaktordruckbehälters zu verringern".

Die finnische Betreiberfirma "Fortum" bestätigte ebenfalls die
Recherchen von WDR und SZ, wonach in den beiden Reaktoren Loviisa-1
und Loviisa-2 das Notkühlwasser bereits seit 1990 vorgeheizt wird.
Als Grund nennt die Firma, im Falle eines Unfalls wolle man
Temperaturschocks vermeiden, vor allem im Reaktordruckbehälter. Auch
für die Reaktoren in Frankreich - wo u.a. das seit langem umstrittene
Atomkraftwerk Fessenheim an der deutsch-französischen Grenze
betroffen ist - und der Slowakei liegen Dokumente über das Vorheizen
des Notkühlwassers vor. Die Betreiber reagierten jedoch auf die
Anfragen von WDR und SZ nicht. In deutschen Atomkraftwerken wird
diese Praxis derzeit nicht angewandt.

Im Normalfall beträgt die Temperatur des Notkühlwassers fünf bis zehn
Grad. "Die Vorwärmung von Notkühlwasser bedeutet einen Abbau von
wichtigen Sicherheitsreserven", meint der frühere Atomaufseher
Renneberg: "Wenn man nicht mehr sicher ist, dass der
Reaktordruckbehälter das normal temperierte Notkühlwasser aushält,
dann ist das allein schon ein Alarmsignal." Renneberg weist außerdem
darauf hin, dass durch dieses Verfahren neue Risiken entstehen -
etwa, wenn die Heizung ausfällt oder nicht ausreichend vorgewärmtes
Wasser zur Verfügung steht. "Bei solch einer Maßnahme sträubt sich
wirklich alles in mir. Das geht an die Substanz", so Renneberg.

Das Vorheizen des Kühlwassers ändert auch nichts an der
beeinträchtigten Stabilität des Reaktordruckbehälters selbst. "Damit
können sich die Betreiber ein paar Jahre weiteren Betrieb kaufen",
erklärt Atomexperte Michael Sailer gegenüber WDR und SZ, "die
Neutronenversprödung wird damit aber nicht aufgehalten. Egal, was man
macht, man gerät immer näher an die Grenzen des Materials."

Der ehemalige GRS-Mitarbeiter und Atomsicherheitsexperte Manfred
Mertins ist überzeugt, dass von den Reaktoren, in denen das
Notkühlwasser vorgeheizt wird, ein erhöhtes Risiko ausgeht. Er
plädiert deshalb dafür, sie abzuschalten: "Aus sicherheitstechnischen
Gesichtspunkten kann ich so eine Anlage nicht betreiben", so Mertins.

Die genaue Zahl der Reaktoren, in denen dieses Verfahren derzeit
angewandt wird, ist nicht öffentlich bekannt. Weder die
Internationale Atomenergie Behörde, IAEA, noch die nationalen
Aufsichtsbehörden haben bislang Angaben dazu veröffentlicht.

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Original-Content von: WDR Westdeutscher Rundfunk, übermittelt durch news aktuell


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