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Börsen-Zeitung: Vox Populi und Mr. Market, Marktkommentar von Dietegen Müller

Geschrieben am 20-05-2016

Frankfurt (ots) - Selten, dass eine einzige, noch dazu weitgehend
unbekannte Person Aktien- und Devisenmarkt zugleich in Aufruhr
versetzt. Dem Präsidenten des Unterhauses des brasilianischen
Parlaments, Waldir Maranhão, ist dies kürzlich gelungen. Er hatte
überraschend das Amtsenthebungsverfahren gegen die brasilianische
Präsidentin Dilma Rousseff für ungültig erklärt. Damit schickte er
die Landeswährung Real kurzfristig um 4,6% und den Leitindex Bovespa
um 3,5% in den Keller (vgl. Chart). Der Spuk war von kurzer Dauer,
Währung und Börse erholten sich, Rousseff wurde schließlich doch
suspendiert.

Das Beispiel bedient zwei gängige Klischees: Politische Börsen
haben kurze Beine. Und wenn überhaupt, spielt Politik vor allem auf
den Finanzmärkten in Schwellenländern eine Rolle. Beides ist eine
Fehleinschätzung. In den vergangenen zehn Jahren haben europäische
Aktien gemessen am MSCI Europe Index etwa nicht viel besser
abgeschnitten als Schwellenländermärkte. Es ist nicht von der Hand zu
weisen, dass dies mit politischer Instabilität und Unsicherheit zu
tun hatte: Das europäische Schuldendrama und die Befürchtungen um ein
Auseinanderbrechen der Währungsunion haben ihre Spuren im Wachstum
und im Vertrauen von Investoren hinterlassen.

Es gibt Marktbeobachter wie der Vermögensverwalter William Blair,
die meinen, seit dem Ende des Kalten Kriegs seien politische
Extremrisiken wie ein Nuklearschlag einer Supermacht von der
Bildfläche verschwunden. Dafür sei die Welt permanent unsicherer
geworden, geprägt von größeren und kleineren Konflikten. Dieser Sicht
ist viel abzugewinnen. Die Welt ist multipolar geworden, die Zahl
internationaler kriegerischer Konflikte hat in den letzten Jahren
zugenommen. Auch sind vermeintlich stabile Gefüge in Bewegung. Eine
Sorge ist etwa, ob in Europa weitere autoritär und
interventionistisch geprägte Regierungen Einfluss gewinnen werden.
Die US-Großbank Citigroup spricht in diesem Zusammenhang von
"Vox-Populi-Risiken" sowie "neuen sozioökonomischen Risiken", die
ihre Kraft auch aus Umverteilungsfragen sowie einer terroristischen
Bedrohungslage ziehen.

Die nächsten eineinhalb Jahre werden neue Anhaltspunkte geben,
wohin Europa steuert: In Deutschland und in den Niederlanden stehen
2017 Parlamentswahlen an, in Frankreich Präsidentschaftswahlen. Eine
Antwort müssen auch die spanischen Wähler finden, wem sie ein Mandat
für die Führung ihres defizitgeplagten Landes geben wollen. Schon im
Juni werden die britischen Wähler über die EU-Mitgliedschaft der
Insel entscheiden. Und am 8. November wird sich zeigen, ob in den USA
der von Wall Street gefürchtete republikanische Kandidat Donald Trump
das Rennen macht oder die als moderat geltende Demokratin Hillary
Clinton.

Die Börse ist eine Wahl- und eine Gewichtungsmaschine, sagte der
legendäre US-Investor Benjamin Graham einmal: Langfristig entscheiden
Fundamentaldaten, kurzfristig die Launen der Anleger. Die
Charaktereigenschaft von Mr. Market trifft also in politischen Fragen
auf die kurzfristigen Launen der Wähler, was ein komplexes, mitunter
explosives Gemisch ergibt. Finanzmarkt und Politik sind beides
vielschichtige, sehr volatile, anpassungsfähige Systeme mit
Rückkoppelungseffekten. Damit entziehen sie sich allen langfristigen
Prognosen. Doch ist unstrittig, dass Politik, Regulierung und Markt
sich gegenseitig beeinflussen. Politische und regulatorische
Veränderungen können genauso Ursachen für Marktverwerfungen sein wie
eine Folge davon, wenn etwa der Kapitalmarkt signalisiert, dass die
Schuldenlast eines Staates oder das Geschäftsmodell eines
Unternehmens untragbar geworden ist.

Noch fehlt der überzeugende Ansatz, wie politische Risiken in
ihren Auswirkungen auf die Finanzmärkte erfassbar sind. In den
Kinderschuhen stecken Experimente mit Plattformen, die sich hier die
"Weisheit der Masse" zunutze machen wollen. Market und Vox Populi
sind beide schwer fassbar. So ist trotz Flüchtlingskrise und Sorgen
vor einem EU-Austritt Großbritanniens etwa der Euro Break-up Index
des Analysehauses Sentix im April auf niedrigem Niveau geblieben. Mit
16,7 % liegt er weit unter dem Höhepunkt von 73%. Den hatte der Index
im Juli 2012 erreicht, ein Jahr nach einem Einbruch von fast 20 % am
Aktienmarkt. Und doch provozieren Umfragen zum Ausgang des
Brexit-Referendums schön regelmäßig neue Kursschwankungen. Politische
Risiken zu gewichten, fällt Mr. Market so schwer wie Fundamentaldaten
zu interpretieren - auch er ist eben zunächst eine kurzfristig
geprägte "Voting Machine".



Pressekontakt:
Börsen-Zeitung
Redaktion

Telefon: 069--2732-0
www.boersen-zeitung.de


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