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Landeszeitung Lüneburg: "Die Scheu des Hirns vorm Nachdenken" - Interview mit dem Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther

Geschrieben am 19-05-2016

Lüneburg (ots) - Datenspeicher hier, GPS-Navi dort: Die digitale
Technik macht unser Leben effizienter und bequemer. Das Gehirn
schätzt die kleinen Helferlein, sagt der Göttinger Hirnforscher Prof.
Dr. Dr. Gerald Hüther. "Das kommt seinem Bestreben entgegen, Energie
zu sparen. Aber: Bereiche, die nicht regelmäßig genutzt werden,
verkümmern. Richtig eingesetzt können digitale Medien uns aber
ermöglichen, die Welt kreativ zu gestalten."

Bis zum Aufkommen bildgebender Verfahren bei der Messung von
Hirnaktivität galt das Gehirn als Organ, das sich ab einem relativ
frühen Punkt in der individuellen Entwicklung nicht mehr wandelt. Was
denkt man heute über die Plastizität unseres Hirns?

Prof. Gerald Hüther: Man hat zwar schon in den 80er-Jahren geahnt,
dass zeitlebens Vernetzungen im Gehirn umgebaut werden, konnte dies
aber nur bei Tierversuchen belegen. Seitdem wir mit der
Kernspintomographie funktionelle Aktivitätsmuster darstellen können,
wird deutlich, dass es bis ins hohe Alter im Gehirn zu Umbauprozessen
kommt. Wer beispielsweise spät das Jonglieren erlernt, hat nach einem
halben Jahr im Hirn eine Vernetzung ausgebildet, die vorher nicht da
war.

Unser Gehirn ist ein Energiefresser, der aber auch über einen
Energiesparmodus verfügt. Welche Folgen für die Selbstorganisation
unseres Denkorgans hat es, dass erstmals digitale Helferlein zur
Verfügung stehen, die uns Denkprozesse abnehmen?

Prof. Hüther: Es ist offenbar ein grundsätzliches
Organisationsprinzip lebender Systeme, ihre Beziehungen so zu ordnen,
dass so wenig Energie wie möglich verbraucht wird. Das gilt
gleichermaßen für Gemeinschaften wie für Organismen und Organe. Unser
Gehirn verbraucht schon im Ruhezustand 20 Prozent der vom Körper
bereitgestellten Energie. Der Wert schnellt nach oben, wenn etwas
Neues erlernt wird. Mancher kann sich noch an die Erschöpfung nach
den ersten Fahrstunden erinnern. Die damals notwendige Denk- und
Konzentrationsleistung verbrauchte enorm viel Energie. Durch die
Herausbildung von Automatismen wird dieser Aufwand verringert. So
sind wir oft mit Autopilot unterwegs: beim Beurteilen anderer
Menschen, beim Lesen der Zeitung, bei Alltagsaufgaben. Die Hürden
sind hoch, damit das Gehirn den Energiesparmodus verlässt, der oft
"innerer Schweinehund" genannt wird. Nachdenken ist nicht die
Lieblingsbeschäftigung unseres Gehirns. Kein Wunder, dass Menschen
technische Geräte erfinden mit dem Ziel, eigene Anstrengungen zu
verringern. Dank der digitalen Medien sind wir nun in der Lage, uns
Denk- und Erinnerungsleistungen zu erleichtern. So ersparen uns
satellitengestützte Navigationssysteme das Lesen von Landkarten und
die Orientierung im Raum. Das ist zwar alles erlernbar, aber das wird
kaum noch einer machen, wenn ein Knopfdruck reicht, um es zu umgehen.
Mit dem Ergebnis, dass die erforderlichen neuronalen Vernetzungen im
Hirn nicht ausgebildet werden oder - so bereits verhanden -
verkümmern. Früher konnten sich auch die meisten Menschen relativ
mühelos um die zehn Telefonnummern merken. Das gelingt heute kaum
noch jemandem, weil die persönlichen Telefonnummern irgendwo
eingespeichert sind. Die Frage ist aber, wie weit man den digitalen
Geräten sein Erinnerungsvermögen überlassen kann, ohne dabei seine
Identität zu verlieren. Wer sich an seine eigenen Lebensereignisse
nicht erinnern kann, ohne dazu auf einem Laptop nachgucken zu müssen,
ist gefährdet.

Können Jugendliche ihre Potenziale noch voll ausschöpfen, die mehr
mit virtuellen Online-Wesen kommunizieren als mit realen Menschen?

Prof. Hüther: Tatsächlich brauchten wir als soziale Wesen die
anderen, sonst können wir uns nicht entwickeln. Fast alles, was wir
als Erwachsene können, haben wir von anderen gelernt. Deshalb sind
soziale Beziehungserfahrungen so entscheidend für die Ausbildung der
entsprechenden neuronalen Verschaltungsmuster. Habe ich mit ganz
einfach denkenden Menschen zu tun, etwa in einer Neonazi-Gruppe,
entwickeln sich auch nur einfache Verschaltungsmuster in meinem
Gehirn, mit denen ich versuchen muss, die Welt zu begreifen. Das mag
energiesparend sein, kann aber dazu führen, dass man sich in dieser
Welt nur noch mit Gewalt zurechtfindet. Komplexe
Beziehungserfahrungen kann man aber nur in Begegnungen mit Menschen
machen, die nicht alle gleich, sondern möglichst unterschiedlich
sind. Dabei ist nicht Häufigkeit der Kontakte entscheidend, sondern
Intensität des Austausches - und das geht über digitale Medien nicht.

Also ist die Kommunikation über sogenannte soziale Medien, in
denen der Widerpart oft nur Objekt ist, keine vollwertige
Kommunikation?

Prof. Hüther: Damit sich zwei Menschen als Subjekte begegnen
können, reicht es nicht, dass sie Worte austauschen. Zu einer
Begegnung gehört, dass man Gestik und Mimik sehen kann. Wer lediglich
auf Worte reduziert kommuniziert, kann auch nur noch einfachere
Beziehungen pflegen. Wir haben eine entsprechende Entwicklung derzeit
in Japan. Dort wird mit großer Sorge verfolgt, dass viele junge
Menschen nicht mehr in der Lage sind, realen Sex miteinander zu
haben. Die kennen Sex nur als virtuelles Erlebnis der
Selbstbefriedigung vor dem Bildschirm. Reale Partner, die Geruch
aufweisen, die sich bewegen, die sich nicht abschalten lassen, sind
diesen Menschen zu komplex. Ihnen fehlen die Vernetzungen, die sie
nur ausgebildet hätten in der Erfahrung körperlicher Begegnungen mit
einem Partner.

Um bei der Affektregulation in Japan zu bleiben: Vor einigen
Jahren ging eine Meldung über den Ticker, nach der ein Paar sein
eigenes Kind verhungern ließ, weil es lieber ein virtuelles großzog.
Verlieren wir die Fähigkeiten zur Lösung zwischenmenschlicher
Probleme?

Prof. Hüther: Diese Beispiele zeigen nicht, wo wir mal als
Menschheit landen werden. Aber sie zeigen, was alles menschenmöglich
ist. So sind in Korea junge Männer vor ihren Bildschirmen verdurstet,
weil sie so in ihren Spielen gefangen waren, dass sie das Trinken
vergaßen.

Wird eine Generation, die mit GPS-Handys und selbstfahrenden Autos
groß wird, die Fähigkeit, sich zu orientieren, gar nicht erst
entwickeln?

Prof. Hüther: Nur in dem Ausmaß, in dem sie es brauchen. Wozu
sollen sie die Fähigkeit entwickeln, sich im Wald zu orientieren,
wenn sie ohnehin nie im Wald sind? Also fehlen ihnen diese
Strukturen, die ihnen die Fähigkeit erst verleihen würden.

Der Mensch hat etwa so viele Gene wie ein Fadenwurm. Man greift
also zu kurz, wenn man die Komplexität unseres Denkens auf Gene
zurückführen will. Fallen wir auf Fadenwurm-Niveau zurück, wenn wir
uns lieber auf digitale Helfer verlassen, statt selbst mit
Begeisterung zu denken?

Prof. Hüther: Tatsächlich ist fast alles, was wir können, nicht
durch evolutionäre biologische Entwicklung zustande gekommen, sondern
ist Kultur. So gut wie alles ist kulturell geformt und muss deshalb
von menschlichen Gemeinschaften überliefert werden. Geschieht dies
nicht, ist es weg. Je mehr Tätigkeiten wir uns von Robotern und
Maschinen abnehmen lassen, desto weniger entwickelt unser Gehirn die
dazu erforderlichen Nervenzellverschaltungen, die uns zu diesen
Tätigkeiten befähigen. Um nicht in eine Generalkritik an den
digitalen Medien zu fallen, gilt es zu fragen: Welche Chance bietet
der Einsatz digitaler Medien? Bereits die Entwicklung von Maschinen,
die uns kräftezehrende Arbeit abnahmen, war von Ängsten begleitet,
erinnert man sich etwa an die Weberaufstände. Digitale Maschinen
können uns nun geistige Arbeit abnehmen. Allerdings auch nur solche,
die wenig anspruchsvoll ist, denn sie muss in Algorithmen
verschlüsselbar sein. Also Routinearbeit, die nicht das berührt, was
den Menschen eigentlich auszeichnet. Wir besitzen Kreativität und
Intentionalität. Beides fehlt den Maschinen. Wir sind diejenigen, die
etwas wollen können. Und wir sind diejenigen, die sich etwas
ausdenken können, um unser Wollen umzusetzen. Wenn uns also die
Maschinen die eintönige Arbeit abnehmen, werden wir auf das
zurückgeworfen, was uns auszeichnet. Und so könnten wir endlich
begreifen, was uns als Menschen eigentlich ausmacht. Und das ist
nicht die Befähigung zum Schachweltmeister oder zum
Gedächtnisakrobaten in TV-Shows, sondern das ist unsere Gabe, unsere
geistigen Kräfte auf ein Ziel auszurichten. Dieses
Alleinstellungsmerkmal des Menschen können wir nur im Zusammenspiel
mit anderen entwickeln, also in Co-Kreativität.

Können die Individuen Co-Kreativität entwickeln, die sich an den
Energiesparmodus vor dem Fernseher und dem Computer gewöhnt haben?

Prof. Hüther: Da das Gehirn zeitlebens formbar ist, kann man
vieles reaktivieren, was anfangs verpasst wurde. Aber damit man es
wollen kann, muss man es erst begreifen. Hier liegt der Schlüssel.
Die digitalen Medien mit all den Defiziten, die sie auf den Ebenen
der sozialen und individuellen Kompetenz produzieren, führen
inzwischen automatisch dazu, dass wir uns fragen müssen, was uns als
Menschen eigentlich ausmacht. Erst dieses Begreifen setzt uns in den
Stand, es zu bewahren und an unsere Kinder weiterzugeben. Die
Einführung der digitalen Medien zwingt uns also in einen
Erkenntnisprozess, der dazu führen wird, dass auch unsere
Bildungssysteme sich auf zwei Dinge fokussieren: Erstens den Kindern
zu helfen, die Lust am Lernen, also die Intentionalität am Entdecken
und Gestalten, niemals zu verlieren. Und zweitens, dass sie von
Anfang an lernen, in co-kreativen Prozessen ihre Welt zu gestalten.
Das ist ein wesentlich optimistischerer Ausblick als die Forderung,
auf digitale Medien zu verzichten. Ein Verzicht würde uns ja dann
auch die-sen Erkenntnisgewinn vorenthalten. Menschen, die bis zu
diesem Punkt gekommen sind, wissen dann auch, wie sie digitale Medien
einsetzen können, nämlich als Werkzeuge, um ihre Welt zu gestalten.
Bisher werden diese Medien von Jugendlichen aber vornehmlich als
Instrumente zur Affektregulierung eingesetzt. Weil ihnen langweilig
ist, weil sie Frust haben, weil sie einsam sind, weil sie ihre
sexuellen Bedürfnisse befriedigen wollen. Das Ergebnis dieser
missbräuchlichen Nutzung dieser Medien ist, dass sie ihre eigenen
Fähigkeiten zur Regulation ihrer Affekte nicht ausbilden können. In
diesem naiven, unwissenden Umgang mit diesen Medien steckt die
Gefahr. Wir Menschen sollten wissen, was wir da eigentlich tun.

↔Das Interview führte

↔Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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