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"Jeder Jugendliche braucht ein Idol" / Ein Doppelinterview mit Denise Schindler und Lars Pickardt

Geschrieben am 09-02-2016

Frechen (ots) - Wenn sie sich über die Themen Nachwuchs und
Talentförderung unterhalten, sollte jeder zuhören. Denise Schindler
und Lars Pickardt sind ohne Zweifel vom Fach. Die 30 Jahre alte
Schindler wurde im vergangenen Jahr Bahnrad-Weltmeisterin in
Apeldoorn; 2012 brachte sie die Silbermedaille aus London mit, damals
auf der Straße. Schindler ist eine große Medaillenhoffnung für die
Paralympischen Spiele in Rio im Sommer. Als früh
Unterschenkelamputierte erlebte sie den ganzen Stress, den
Sportunterricht an deutschen Schulen ausmachen kann. Der 44 Jahre
alte Lars Pickardt aus Solingen ist als Vorsitzender der Deutschen
Behindertensportjugend (DBSJ) quasi von Amts wegen mit dem Thema
Nachwuchsförderung befasst.

In einem moderierten Gespräch sprechen die beiden über staunende
Jugendliche, ratlose Lehrer, große Entbehrungen, Helikopter-Eltern,
den Wert von "Jugend trainiert für Paralympics" und den Traum von
Rio.

Frage: Wie zielgerichtet ist Nachwuchsförderung im
Behindertensport inzwischen eigentlich?

Lars Pickardt: Es gibt eine grundsätzliche Schwierigkeit, dass
viele Eltern denken, wir wollten ihre Kinder aus dem "normalen"
Verein herausreißen. Das wollen wir nicht. Wenn ein Talent dort gut
gefördert wird, kann es dort bleiben - sollte aber an
Sichtungslehrgängen im Behindertensport teilnehmen und auch an
unseren Wettkämpfen. Ich kenne das aus meiner Arbeit als Präsident
und Trainer im Kölner Fechtklub: Da sind die Rollstuhlfahrer im
normalen Training dabei. Meine fünf Rolli-Fahrer sind dann eben im
DBS, die anderen 115 im Fechtverband gelistet.

Frage: Ist es für die Eltern nicht ein Erfolg, wenn ihr
behindertes Kind bei den "Normalen" mitmacht?

Pickardt: Die Eltern sind oft stolz und froh, dass ihr Kind im
"normalen" Sportverein ist und sagen: Mein Kind macht richtig Sport!
Viele Kinder und Jugendliche mit überschaubaren Amputationen sind im
Schwimmen oder in der Leichtathletik im normalen Verein auch gut
aufgehoben. Sie nehmen sogar an Kreismeisterschaften teil. Aber: Das
sind genau die Talente, die wir brauchen! Diese wären in unseren
Strukturen ganz weit vorn.

Frage: Können Lehrer und Trainer mit behinderten Sportlern
umgehen?

Pickardt: Ich höre immer wieder, dass behinderte Schüler im
Schulsport auf der Bank sitzen, weil die Lehrer nicht mit ihrer
Situation umgehen können. Für Trainer gilt das weniger. Wir müssen
die Trainer und Lehrer an der Basis sensibilisieren und dann auch
fortbilden. Es gibt einige Ideen und Projekte gerade vor Ort, aber
den generellen Masterplan haben wir nicht. Aber es gibt auch immer
mehr Schüler, die den Lehrern die Angst nehmen und sagen: Lass mich
einfach mitmachen, ich kann das. Die Lehrer oder Übungsleiter müssen
ja auch keine absoluten Spezialisten werden. Sie sollten aber wissen,
dass es den organisierten Behindertensport gibt, sie uns fragen
können, oder auf uns verweisen.

Frage: Denise, was war Ihre schmerzlichste Erfahrung als
Jugendliche?

Denise Schindler: Da muss ich mit meiner Vorgeschichte beginnen.
Ich habe bei einem Unfall den rechten Unterschenkel verloren, als ich
mit zwei Jahren unter eine Straßenbahn geriet. Das Sprunggelenk
meines rechten Fußes ist seitdem versteift. Nach dem Unfall war ich
ein Jahr im Krankenhaus. Bis ich zwölf, 13 Jahre alt war, musste ich
ein Mal pro Jahr operiert werden. Wir sind im Mai 1989 kurz vor der
Wende aus Karl-Marx-Stadt extra in den Westen gezogen. Wegen der
besseren Krankenhäuser. Das war alles nicht so einfach.

Frage: Teilen Sie Lars Pickardts Ansichten zum Schulsport?

Antwort: Ja, auf jeden Fall. Laufen, Rennen, Ballsportarten, das
war für mich natürlich gar nicht geeignet. Da konnte ich überhaupt
kein Selbstvertrauen schöpfen. Ich bin erst mit 18 dahin gekommen,
dass Sport Erfüllung ist. Ich habe vorher viele Hänseleien erlebt.
Kinder sind brutal. Als behindertes Kind oder Jugendliche brauchst du
Idole, um dich zu trauen. Oder einen gut ausgebildeten Lehrer. Den
hatte ich nicht. Das kann man aber auch nicht erwarten. Die Lehrer
lernen viele Stoffe in ihren Fächern, aber wenig Pädagogik. Auch
deshalb sind Förderschulen so wichtig und der Wettbewerb "Jugend
trainiert für Paralympics". So etwas hätte ich mir für mich auch
gewünscht.

Frage: Können Sie aus dieser schweren Zeit etwas Positives
mitnehmen?

Schindler: Dein Umfeld sagt dir, du bist behindert, also: "Sei
froh, dass du laufen kannst." So geht bis heute ein Haufen Talent für
den Behindertensport verloren. Ich bin ja komplett zufällig in den
Bereich Paracycling eingestiegen, erst mit 18 Jahren. Ich wurde dazu
überredet. Eine Freundin von mir wollte abnehmen und hat mich
gefragt, ob ich mitmachen will. So habe ich das Spinningrad im
Fitnessstudio entdeckt. Es hat mir sofort Freude gemacht, mich eine
Stunde auszupowern. Meine Eltern haben dann lange gehofft, der
Hochleistungssport sei eine Phase, die vorübergeht. Sie haben sich
gesorgt. Jetzt bin ich glücklich, diesen Sport zu haben. Man muss
sehr ehrgeizig sein und Disziplin haben. Aber es gibt viele
Belohnungen - ich wollte heute drei Stunden Mountainbike in den
Bergen fahren. Es sind aber fast vier geworden, weil es einfach toll
lief. Radsport ist gelenkschonend, man sieht viel und reift als
Mensch.

Frage: Herr Pickardt, wenn Denise Schindler erzählt, sie sei erst
mit 18 Jahren zum Sport gekommen, was denken Sie da?

Pickardt: So etwas gibt es. Wir hoffen, dass uns keine Talente
durch die Lappen gehen, weil der Spaß am Sport in der Schule verloren
geht. Durch das System, dass die Landessieger bei "Jugend trainiert
für Paralympics" teilnehmen, wird ja in den Ländern nach Talenten aus
den Schulen geschaut. Wir hätten etwas falsch gemacht, wenn uns erst
beim Bundesfinale in Berlin oder Schonach ein überragender Athlet
auffiele. Die Landessieger kennen wir schon vorher. Dafür ist das
Bundesfinale "Jugend trainiert für Paralympics" als Leuchtturm
besonders wichtig.

Frage: Denise, Sie sind Vorzeigeathletin des DBS geworden. Müssen
Sie sich manchmal kneifen, um das zu glauben?

Schindler: Das geschieht ja nicht sofort. Das war eine
Entwicklung. Ich mache das gern. Ich kann Wissen weitergeben und
Tipps geben. Ich weiß, dass man mit einer Behinderung ganz andere
Bedürfnisse hat. Ich möchte den Kindern den Einstieg erleichtern.
Mein Anliegen ist, dass die Kids den Zugang zum Sport finden. Wenn
mir früher jemand gesagt hätte, was aus mir wird, hätte ich den Kopf
geschüttelt. Es dürfen dem deutschen Behindertensport einfach nicht
viele Talente durch die Lappen gehen.

Frage: Sie sind sehr aktiv, leiten Aktionen zur Nachwuchsförderung
an. Worum ging es bei "Hier trainiere ich"?

Schindler: Das ist ursprünglich eine Idee der Deutschen Bahn. Die
DB ist größter Förderer von "Jugend trainiert für Paralympics". Es
gab ein Training, das die Schüler mit mir gewinnen konnten. Dafür
mussten sie sich bewerben. Es waren 16, 17-jährige Schüler vom
Gymnasium Ansbach. Wir sind Ende Oktober alle zusammen drinnen auf
Spinningrädern gefahren. Da haben sie gemerkt, wie anstrengend das
ist. Wichtiger noch waren die Gespräche hinterher.

Frage: Worum ging es da?

Schindler: Es hat sie total interessiert, wie und warum ich ins
Radfahren eingestiegen bin, weil ich ja damals in ihrem heutigen
Alter war. Es ist nie zu spät für den Leistungssport, das ist meine
Botschaft. Sie haben ganz normale Fragen aus dem Leben gefragt, ob
ich am Wochenende ausgehen könne, wie zeitaufwendig mein Sport ist.
Und, ob ich auch mal Alkohol trinke.

Frage: Und?

Schindler: Ich habe gesagt, nein, aber Maracujasaftschorle.

Frage: Haben sie sich für ihre Prothese interessiert?

Schindler: Ja. Damit gehe ich ganz natürlich um. Ich habe ihnen
gesagt, es ist einfach ein Schuh, den ich anziehe.

Frage: Herr Pickardt, woran fehlt es noch bei der
Nachwuchsförderung im Behindertensport?

Antwort: Da gibt es viele Ansätze. Der Begriff der
Helikoptereltern ist ja bekannt. Sie spielen auch im Behindertensport
eine besondere Rolle. Hinzu kommt, dass viele Kinder bis nachmittags
in der Schule sind, sie haben dann noch ein- bis zweimal die Woche
Reha und vielleicht noch einen Arztbesuch. Da sagen viele Eltern, die
permanent als Fahrdienst unterwegs sind: Heute bleiben wir mal
zuhause. Meiner Meinung nach neigen viele Eltern dazu, ihr
behindertes Kind überzubehüten, ihm ganz wenig zuzumuten, aber eben
auch wenig zuzutrauen. Wir müssen den Eltern klarmachen: Lasst euer
Kind mal laufen! Es trägt zur Selbstständigkeit und
Persönlichkeitsentwicklung bei!

Frage: Wie kann der Nachwuchs denn noch besser gefördert werden?

Pickardt: Das sind Kleinigkeiten, die aber alle Geld kosten. Dass
wir Nachwuchsathleten zu Lehrgängen mitnehmen, zu Trainingslagern und
großen Wettkämpfen bei den Erwachsenen. Da können sie erste
Erfahrungen sammeln. Das Bundesfinale in Berlin im Schwimmen ist auch
deswegen so professionell aufgezogen mit großer Halle und
Hallensprecher, damit die Sportler mal sehen, wie ein Wettkampf
dieser Größe funktioniert.

Ganz wichtig ist aber auch das Arbeiten mit Paten und Vorbildern.
Ich kann mich als Vorsitzender stundenlang hinstellen und vor Lehrern
und Schülern erzählen, wie man es machen sollte. Wenn da Vorbilder
stehen, hat das eine ganz andere Wirkung. Ich weiß, wie überzeugend
und von Herzen Denise so etwas macht. Wir brauchen unsere namhaften
Athleten wie Anna Schaffelhuber, Markus Rehm, Heinrich Popow, Verena
Bentele oder Anna-Lena Forster als Paten und Vorbilder für die
Jugend. Sie können den Nachwuchs erreichen und mitnehmen. Und machen
dies auch gerne.

Frage: Kann eine Aktion wie "Hier trainiere ich" dabei helfen?

Pickardt: Auf jeden Fall. Im Rahmen des Hauptsponsorings des
Schulwettbewerbs "Jugend trainiert für Paralympics" hat die Deutsche
Bahn diese Aktion ins Leben gerufen. Die coolen Jungs, die Denise
sahen und dachten: "Der fahre ich mal eben weg auf dem Rad, der fehlt
ja ein Unterschenkel", haben ganz schön gestaunt, als Denise sie beim
Spinning in Grund und Boden gefahren hat. Es geht eben auch um solche
Erfahrungen - dass ein Nichtbehinderter sieht, zu welchen Leistungen
ein Behinderter imstande ist. Wenn es gleiche Bedingungen gibt.



Pressekontakt:
Deutscher Behindertensportverband e.V. - National Paralympic
Committee Germany
- Im Hause der Gold-Kraemer-Stiftung -
Tulpenweg 2-4
50226 Frechen
Tel: 02234-6000-0
Fax: 02234-6000-150
e-mail: pressestelle@dbs-npc.de
Internet: www.dbs-npc.de


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